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Ende der Schonzeit

Ein halbes Jahrhundert nach der Nelkenrevolution nähert sich Portugal wieder dem Faschismus. Von Carmela Negrete

Noch immer feiert Portugal den 50. Jahrestag der Nelkenrevolution von 1974. Bis 2026 läuft ein staatliches Programm, das die bürgerliche Demokratie Portugals an das Ende der Diktatur von António de Oliveira Salazar erinnern soll. Und während dieser Feierlichkeiten zur kommunistischen Revolution und zum Beginn der Demokratie erzielt ausgerechnet die rechtsextreme Partei Chega unter André Ventura mit 22 Prozent ihr bislang bestes Ergebnis.

Der Weg vom revolutionären Ursprung des heutigen portugiesischen Staates über die Anpassung an das Europa von Maastricht bis zum Widerstand gegen Finanzkrise und Troika ist zugleich die Geschichte des Niedergangs der Linken in Portugal. Das letzte Kapitel dieser Entwicklung wurde am 18. Mai geschrieben, als innerhalb von drei Jahren die dritten Wahlen stattfanden. Dabei errang die rechtskonservative Koalition Aliança Democrática (AD) unter dem derzeitigen Premierminister Luís Montenegro von der irreführend benannten Partido Social Demócrata einen Wahlsieg.

Montenegro hatte die Wahlen vorgezogen, weil er in eine Immobilienaffäre verwickelt war und sich des Vertrauens der Bevölkerung vergewissern wollte. Offenbar besitzt er dieses noch: Von den 116 Abgeordneten, die für eine absolute Mehrheit nötig wären, erhielt seine Koalition immerhin 89 Sitze – und wird voraussichtlich weiterregieren. Die Öffentlichkeit scheint von solchen Skandalen nicht mehr sonderlich beeindruckt zu sein. Es hat sich das Gefühl verbreitet, dass die Justiz wiederholt Verfahren einleitet, um Regierungen zu stürzen. Geradezu grotesk wurde es im Fall von Montenegros Vorgänger António Costa: Er trat zurück, nachdem gegen ihn Anklage erhoben wurde – nur um später, bereits nicht mehr im Amt, zu erfahren, dass die Justiz den »falschen« António Costa im Visier hatte.

Im kurzen Wahlkampf hetzte die extreme Rechte erneut gegen Migranten, insbesondere gegen Angehörige der Roma, und versprach, »Portugal zu retten«. Die Bestrafung »korruptionsverdächtiger Eliten« gehört schon länger zu den zentralen Versprechen von Chega – die Partei erinnert in Tonfall und Strategie zunehmend an Donald Trump. Dieser Diskurs ist allerdings längst bis in die politische Mitte vorgedrungen: So versprach auch die rechtskonservative PSD im Wahlkampf, massenhaft Migranten abzuschieben – ähnlich wie in Deutschland die CDU.

Die wirtschaftsliberale Partei Iniciativa Liberal gewann sieben Sitze und könnte Montenegro unterstützen – für eine Mehrheit reicht das allerdings nicht. Die 58 Abgeordneten der PS könnten gemeinsam mit der AD eine große Koalition bilden. Dies wäre jedoch ein riskanter Schritt, der – wie in Deutschland bei der SPD – langfristig zum weiteren Niedergang der Sozialdemokraten führen könnte. PS-Parteichef Pedro Nuno Santos will dies offenbar nicht mittragen und trat zurück. Noch vor kurzem hatte die PS unter António Costa eine absolute Mehrheit errungen – nun kam sie lediglich auf 23 Prozent und erhielt genauso viele Sitze wie Chega.

Noch düsterer sieht es für die politische Linke aus: Sie ist im Parlament praktisch bedeutungslos geworden. Der Bloco de Esquerda kam auf nur 2 Prozent der Stimmen und stellt einen einzigen Abgeordneten. Der Partido Comunista Português (PCP) sackte auf drei Prozent ab und erhielt nur drei Sitze. Den einzigen Aufstieg im progressiven Bereich verzeichnete die Partei Livre. Sie konnte von vier auf sechs Mandate zulegen. Damit ergibt sich ein Panorama, das eine rechtskonservative Regierung mit knapper Mehrheit zeigt – und mit einer erstarkten extremen Rechten in der Opposition. Für Portugal ist das ein Novum.

Eine treffende Analyse der Wahlergebnisse lieferte das Editorial der spanischen Online-Tageszeitung »Diario Red«, herausgegeben vom ehemaligen Vizepräsidenten und Podemos-Gründer Pablo Iglesias. Er weist darauf hin, dass der Zusammenbruch progressiver Kräfte derzeit in ganz Europa stattfinde und das »das Ergebnis einer strukturellen Strategie« sei, »die seit über einem Jahrzehnt von den Machtzentren Europas verfolgt wird, um zu verhindern, dass der Ausweg aus der Krise von 2008 aus antineoliberaler, demokratischer und transformativer Perspektive erfolgt«.

So sei Syriza in Griechenland zerstört, Podemos in Spanien diffamiert und das Bündnis Geringonça in Portugal gesprengt worden. »Mediale und politische Apparate wurden massiv mobilisiert, um zu verhindern, dass diese Kräfte an die Macht gelangen oder sich dort konsolidieren.« Iglesias sieht keine materiellen Voraussetzungen, um aus der politischen Mitte heraus eine Neugründung Europas zu führen: »Das derzeitige europäische Modell garantiert weder Frieden noch Wohlstand, soziale Stabilität oder Menschenrechte.« Der portugiesische Fall – ein Land, in dem die extreme Rechte bisher kaum eine Rolle spielte und das sich durch eine Revolution neu gegründet hatte – sei »eine Warnung für ganz Europa: Wenn der demokratische Fortschritt der Linken systematisch verhindert wird, ist das Ergebnis nicht Ausgewogenheit, sondern autoritäre Reaktion.«

Eines ist jedenfalls klar: Die wirtschaftliche Krise ist in Portugal chronisch geworden. Die EU-Mitgliedschaft hat die Lage nicht verbessert – im Gegenteil, die Industrie hat darunter gelitten. Trotz niedriger Arbeitslosigkeit können viele Menschen von ihrem Lohn nicht leben. Der Tourismusboom hat vor allem zu unbezahlbaren Mieten geführt, insbesondere in Lissabon. Viele junge Menschen wandern deshalb aus, und die Politikverdrossenheit ist groß. Die Medien diskreditierten systematisch die sozialdemokratische Regierung, an der die Linke beteiligt war – obwohl diese überwiegend sozialdemokratische Politik betrieb.

Carmela Negrete schrieb in konkret 9/24 über den Internethetzer »Alvise« Pérez, der es bis ins Europaparlament geschafft hat

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