Nacht und Nebel
Birgit Weyhe zeigt in ihrem Comic Schweigen, wie eng die Geschichte der argentinischen Militärdiktatur mit dem Nationalsozialismus verbunden ist. Von Peter Kusenberg
Dann plötzlich fing er an zu sprechen, und wir wünschten uns sehnlichst sein Schweigen zurück«, heißt es in Primo Levis Roman Die Atempause, denn das Mitleid, das der Schweigensbrecher »in uns erregte, war mit Schrecken gemischt«. In Birgit Weyhes umfangreichem Comic-Werk Schweigen heißt es zu Beginn: »Wer im Nationalsozialismus verschwieg, dass seine Nachbarn untergetauchte Juden versteckten, hat genauso geschwiegen wie diejenigen, die wegschauten, wenn am hellichten Tag die Menschen zu den Deportationszügen gebracht wurden.« Die Ambivalenz des Schweigens durchzieht die historische Erzählung von den 30er Jahren bis in die Gegenwart. Als erste Hauptfigur tritt Ellen Marx auf, der 1939 als jüdischer Schülerin in Berlin die Ausreise nach Argentinien gelingt, wo sie als einziges Mitglied ihrer Familie die Shoa überlebt. Ellens Tochter Nora, die zweite Protagonistin, »verschwindet« knapp vierzig Jahre später in einem Foltergefängnis.
Als dritte Hauptfigur wählte Weyhe die deutsche Studentin Elisabeth Käsemann, die sich im SDS um Rudi Dutschke politisierte und 1970 nach Buenos Aires übersiedelte. Dort setzte sie ihre politische Arbeit fort, was ab 1976 zu einer lebensgefährlichen Angelegenheit geriet, nachdem sich die Militärjunta an die Macht geputscht hatte. Käsemann agitierte im linken Untergrund gegen das Regime, hoffend, dass ihr bundesdeutscher Pass sie vor dem Zugriff des Regimes schützen werde. Ihre britische Freundin Diana erzählte Jahre später, dass sich die beiden am Vortag der Verhaftung zum Frühstück verabredet hatten. Als Elisabeth nicht auftauchte, befürchtete Diana das Schlimmste und vernichtete heikle Dokumente. Am zweiten Tag wurde Diana »abgeholt«, gefoltert und in ein Lager entführt, wo sie die in einem Nebenraum vor Schmerz schreiende Elisabeth wegen ihres deutschen Akzents identifizieren konnte. Die Britin wurde vergewaltigt und entlassen, woraufhin sie das Auswärtige Amt benachrichtigte. Doch, wie es in konkret 10/86 heißt, lagen den »Damen und Herren im Hause Genscher Atom- und Rüstungsgeschäfte näher … als die Erhaltung linken Lebens«. Weyhe illustriert dies mit Schaubildern, die die extreme Steigerung der BRD-Exporte nach Argentinien zeigen, während im folgenden Panel der Kapitän der DFB-Auswahl während der Fußball-WM 1978 das eklige Sätzchen spricht, er, Berti Vogts, »habe keinen einzigen politischen Gefangenen gesehen«.
Dennoch erregte der Fall Käsemann im Heimatland einige mediale Aufmerksamkeit, so dass im Juni 1977 der Leichnam des Folteropfers freigegeben wurde. Nora Marx’ Leiche hingegen wurde nie gefunden. Weyhe beschreibt die Bemühungen der Eltern, insbesondere der Mutter, das Schicksal der Tochter zu ermitteln. In Buenos Aires demonstrierte Ellen mit anderen Müttern, den »Madres de Plaza de Mayo«, für Aufklärung der Verbrechen, wobei sie meist zwischen dem Platz und ihrer Arbeitsstelle bei der jüdischen Gemeinde pendelte. Weyhe verweist auf den hohen Anteil jüdischer Menschen an den Opfern der Junta. »Die Zahl der verschwundenen Deutschen war bis zum Ende der Diktatur auf Hunderte gewachsen. Ein Drittel von ihnen waren Nachkommen deutsch-jüdischer Emigranten«, was nicht verwundert, wenn man weiß, dass seit 1945 via »Rattenlinie« mindestens 10.000 Nazis nach Südamerika entkamen, rund die Hälfte davon nach Argentinien. Weyhe spekuliert, dass sich die Machthaber ein Beispiel an Hitlers »Nacht-und-Nebel-Erlass« von 1941 nahmen und die Opfer »lautlos« und »systematisch« zum »Verschwinden« brachten, um die Angehörigen zu verunsichern.
Die Autorin erzählt das Schicksal der drei Frauen chronologisch und beschreibt zuletzt das weitere Leben der Marxens. Noras Vater etwa verunsichert Jahre nach den Ereignissen eine Reisegesellschaft damit, dass er unaufgefordert davon erzählt, wie sein Sohn bei einem Autounfall in Israel starb, und dass seine jüngste Tochter verschleppt, gefoltert und vermutlich ermordet wurde, und er fragt, wie er dieses Wissen ertragen soll. Seine ebenfalls anwesende Gattin ist entsetzt, doch sie schweigt, weil sie, wie ihre zweite Tochter spekuliert, nur »weiterleben kann, wenn sie ihren Schmerz verdrängt«. Weyhe zeichnet die historischen Ereignisse in einfachen, dezent kolorierten Bildern. Quälerei, Ungewissheit, Schmerz und Vergewaltigung erscheinen als krakelige Schraffur oder als Schwarzfläche, Folterknechte als Scherenschnitt, während der Admiral und Massenmörder Emilio Massera mit blutroten Flecken in Szene gesetzt ist.
Die im Anhang dokumentierte Recherche hat zu einem ebenso aufklärerischen wie anschaulichen Historiendokument geführt, das die Nazi-Herrschaft, Argentiniens Militärdiktatur und deren Verharmlosung durch die Regierung Milei miteinander verbindet. Anders als die Autoren Pascal Bresson und Sylvain Dorange, die in ihrem Comic Beate und Serge Klarsfeld: Die Nazijäger (Carlsen 2021) komische Szenen integrierten, bleibt Weyhe weitgehend nüchtern in ihrer Schilderung. Dabei hätte sie die Lebensumstände der beiden Frauen Nora und Elisabeth gern ein wenig ausführlicher schildern können, damit das Werk nicht in Gefahr gerät, zum Lehrbuch für deutsche Oberstufen zu verkommen.
Doch der Fokus aufs große Ganze mindert nicht das Gelingen der Inszenierung des Grauens, das bei Weyhe entsetzlicher wirkt als der aktuelle argentinische Horrorfilm »1978« über den Terror der »freundlichen Gastgeber der Fußball-Weltmeisterschaft« (Hermann L. Gremliza).
Birgit Weyhe: Schweigen. Avant-Verlag, Berlin 2025, 386 Seiten, 39 Euro
Peter Kusenberg schrieb in konkret 6/25 über den Comic Zwei weibliche Halbakte
Humboldts vergessenes Erbe
Die Menschheit wird ärmer, weil ihre Sprachen verarmen – zu diesem deprimierenden Schluss kommt der Kognitionswissenschaftler Caleb Everett. Von Jürgen Roth
Farbbegriffe«, schreibt der US-amerikanische Kognitionswissenschaftler Caleb Everett in seinem Buch 1000 Sprachen – 1000 Welten, seien »die am gründlichsten untersuchten Sinneswörter in den Sprachen der Welt«. In manchen Sprachen gebe es fünfzehn (zum Beispiel im Koreanischen), in anderen lediglich zwei Grundfarbwörter (»grün« und »rot« in südamerikanisch-indigenen Idiomen). Doch warum dem so ist – man weiß es trotz aller Forschungsanstrengungen nicht. Genügt es der einen Sprachgemeinschaft, die Objekte der physischen Welt in ihrer flamboyanten, schillernden Beschaffenheit mit einem kargen Kategorienapparat zu erfassen, so spürt die nächste den unendlichen Abstufungen der optischen Töne mit einer ausladenden Palette bedeutungstragender Laute nach.
Erstaunlich, dass die in der Geschichte der abendländischen Philosophie gut gereiften Korrespondenztheorien bei näherem Betrachten ihrer Grundlagen verlustig gehen: Just die Völker des Amazonas, deren Sprachen Everett über viele Jahre hinweg katalogisiert hat, benötigen angesichts einer überbordend üppigen Natur nur einen rudimentären Farbwortschatz, derweil dem Englischen diesbezüglich ein ziemlich aufgemotzter Thesaurus zur Verfügung steht. Deshalb scheint der These, es spielten »kulturelle Faktoren« (gewissermaßen als Konstruktionsprinzipien) und nicht außenweltliche die Hauptrolle bei der Ausbildung von Sprachsystemen, die sich unter anderem an der Bewältigung lebenspraktischer Aufgaben zu bewähren haben, eine gewisse Plausibilität zuzukommen.
Die Bildung von Substantivklassen, die Raumvorstellungen sortieren, folgt einem ähnlich erratischen Muster, das eben deshalb keines ist. Everett widerspricht über Hunderte von redundant gefüllten Seiten dem Modell einer universalistischen Sprachtheorie, ohne bis zum Schlusskapitel Noam Chomsky zu erwähnen. Dessen Konzept einer Tiefenstruktur, die, in ihrer Wirkungsweise über apart gezeichnete Bäume mit Nominal- und Verbalphrasen darstellbar, sämtlichen Einzelsprachen zugrunde liege, mag eine abstrakte Syntaxtheorie begründen; die Ebene des Gebrauchs, der Bedeutung, die in ihrer Vagheit und Regellosigkeit in Metaphern und Redewendungen besonders deutlich wird, erreicht es nicht (und, nebenbei, nicht einmal jene der Satzbildung und Wortstellung). Da war nicht erst Wittgenstein weiter, sondern bereits Wilhelm von Humboldt, der zusammen mit Herder und als sachte abtrünniger Kantianer für den ersten linguistic turn in der Geschichte des Denkens verantwortlich zeichnete.
Everett konstatiert, »dass die Sprache einen Einfluss auf das hat, was wir früher als tiefverwurzelte, universelle Facetten der menschlichen Raumwahrnehmung betrachteten«. Bei allem empirischen, feldlinguistisch und datenbankgestützt untermauerten Fleiß – das hätte er einfacher haben können. Humboldt erhob entschieden Einspruch gegen den dieser Tage unter dem Banner der »Weltgesellschaft« segelnden »Vulgärrealismus« und eine mechanistische Sprachvorstellung, die »allen Geist und alles Leben verbannt«. Man nehme den Polen ihr »Flussbein« weg und den Deutschsprachigen ihren »Flussarm«, die Welt wäre nochmals karger.
Wir bahnen uns einen Zugang zur Wirklichkeit durch die je eigene, bildlich prägende, in Analogien aufgefächerte Sprache, »welche der Geist zwischen sich und die Gegenstände durch die innere Kraft seiner Arbeit setzen muss«. Humboldt sprach von »Weltansicht« (nicht von Weltanschauung!). Sprache sei kein »Inbegriff gesellschaftlich erfundener, in sich gleichgültiger Zeichen, deren lästige Verschiedenheit man nun einmal nicht loswerden kann«, sondern tätiger Ausdruck und Medium der Verschiedenheit, die sich bis in jedes Individuum hinein fortpflanze. So viele Sprachen gebe es, wie es Menschen gibt.
»Kommunikation ist Schwindel«, meinte Adorno, sich gegen die rationalistische Reduktion des Äußerungs- und Darstellungsvermögens wendend. Everett ratifiziert das pausenlos. Sprache ist kein bloßes Austauschmittel, sondern eine anthropologische Konstante, die jene Grenzen setzt, ohne die kein Lebewesen zu existieren vermag. »Nur durch die Untersuchung verschiedener kognitiver Bereiche unter völlig unterschiedlichen sprachlichen, kulturellen und ökologischen Umständen kann das Studium des Geistes das wahre Ausmaß der begrifflichen Vielfalt unter den Menschen erfassen«, heißt es bei Everett, und sein Resümee ist deprimierend: »Wir stehen am Schnittpunkt zweier Entwicklungen: der zunehmenden Anerkennung der kognitiven und sprachlichen Vielfalt in den menschlichen Populationen und des unaufhaltsamen Rückgangs der sprachlichen Vielfalt, die diese Anerkennung überhaupt erst ermöglichte.«
Es gibt doch in Berlin diese Universität. Vielleicht sollte man an der mal wieder die Abhandlung Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts lesen – sofern es dort noch um geistige Entwicklung und nicht bloß um »inklusives« Gefasel geht.
Caleb Everett: 1000 Sprachen – 1000 Welten. Wie sprachliche Vielfalt unser Menschsein prägt. Aus dem Amerikanischen von Nikolaus de Palézieux. Westend, Neu-Isenburg 2025, 320 Seiten, 26 Euro
Jürgen Roth schrieb in konkret 5/25 über die Staatsmedien im Vorkrieg
All Greens Are Bastards
Deutschlands Spießbürger toben, seit die Covorsitzende der Grünen Jugend, Jette Nietzard, sich mit einem »ACAB«-Pulli zeigte – am lautesten aber schreit die Führungsriege ihrer eigenen Partei. Von Elena Wolf
Eigentlich ist die ganze Chose viel zu beknackt, um überhaupt darüber zu schreiben. Jede Woche sagen oder tun ein orangener Mann in den USA und seine (Ex-)Freunde irgendeine so irre oder dumme Scheiße, die man nicht glauben würde, wenn man nicht seit Corona daran gewöhnt wäre. Und auch in Deutschland ist es mittlerweile völlig normal geworden, dass Rechte hanebüchenen Quatsch in Markus Lanz’ rechterülpsegeiles Gesicht rülpsen und sich in Interviews mit dem reichsten Mann der Welt einig sind, dass Hitler Kommunist war. Lügen wurden Wahrheit. Krieg wurde Frieden. Sklaverei soll Freiheit werden, Ignoranz obsiegen. Und von den öffentlich-rechtlichen über die bürgerlichen bis zu den Trash-Medien erscheinen Storys mit klickgeilen Überschriften zu jeder noch so absurden Hirngülle in immer höherer Schlagzahl. Nach ein paar Tagen ist bekanntlich wieder Schluss. Bis die nächste Sau durch die Empörungsmaschine gewolft wird.
Okay, Wahrheit war nie die größte Stärke von Rechtsextremen. Die sind eben aktuell am Drücker. Und Medien müssen halt verkaufen. Klar. Und der Orangenmann, sein verflossener Elmo und die deutsche, gesichert rechtsextreme Parteiführerin reden ja auch wirklich am laufenden Band Quark. Aber dass Menschen im Jahr 2025 in einer Gaga-Pandemie leben würden, in der sich Polit- und Finanzeliten überhaupt keine Mühe mehr machen müssen, offensichtlich Falsches als wahr zu verkaufen, und die Welt ernsthaft darüber diskutiert, ob Hitler Sozialist oder Kommunist war, stand wahrscheinlich nicht einmal auf der Bingokarte von Polemikpapst Hermann L. Gremliza. Falls doch, gerne mit Quellenangabe per Leserbrief an die Redaktion. (Spaß! Um Gottes willen bitte keine digitalisierten Analogfotos von Gremliza-Textstellen auf CD-ROM brennen und schicken. Bitte einmal durch die Jogginghose atmen und nicht auf jeden, fast täglich durchrauschenden Empörungszug aufspringen.)
Stichwort: Jette Nietzard – die Ikkimel des deutschen Politikzirkus. Ja, genau: Die 26jährige Bossbitch der Grünen Jugend, die im Mai ein Selfie in ihrer Instagram-Story gepostet hatte, auf dem sie zum obligatorischen Duckface einen petrolfarbenen (steht ihr gut!) Pulli mit einem kleinen »ACAB«-Logo im Stil des Adidas-Logos trug. »ACAB« bedeutet »All Cops Are Bastards«. Schon tausendmal online wie offline auf Shirts und Buttons gesehen. Seit anno punkzumal unendlich oft gehört. Ideologisch traditionell links verortet. Im Steinbruch des linksliberalen Post-Pop zum Etsy-Item verkommen.
Allein auszuführen oder gar zu begründen, warum »ACAB« eine völlig legitime Bekundung ist, würde der reaktionären Dampfplauderei recht geben, derzufolge sich Menschen irgendwie zu verteidigen hätten, die sie tätigen. Und jetzt ist sie sogar bei einer Grünen angekommen. Haha. Das hat die Polizei nicht verdient. Das Bundesverfassungsgericht hatte bereits im Jahr 2016 geurteilt, dass »die Kundgabe der Buchstacbenkombination ›ACAB‹ im öffentlichen Raum … vor dem Hintergrund der Freiheit der Meinungsäußerung nicht ohne weiteres strafbar« ist, weil schlichtweg keine Beleidigung vorliege, die bestimmte Personen benenne. Ein Schuh, so alt wie Franz Josef Wagners Weinbrand.
Da der Dauerempörungszug aber höchste Eisenbahn hat und ein ständiger Erregungszustand nicht nur durch obsessiven Pornokonsum dazu führt, dass immer härteres Material gebraucht wird, um überhaupt noch irgendwas zu spüren, musste Nietzard natürlich eine Woche lang fürs obligatorische Empörungswichsen in Politik und Medien herhalten. Und das nicht nur in Wagners »Bildzeitung« und bei Wein- sowie Reichstagskönigin Julia Klöckner (CDU), bei sämtlichen Parteigrößen und den üblichen Verdächtigen der ganz normalen bürgerlich-rechten Presse wie Nikolaus Blome. Der hat in seinem Hirnstübchen für eine seiner jüngsten Kolumnen mal wieder mit Fäkalien gemalt und Nietzard im »Spiegel« kurzerhand mit Neonazis verglichen, die ja auch »das System« hinter einzelnen Menschen hassen würden.
Ganz vorne mit dabei beim Staffellauf der Berufsempörten waren die Grünen selbst. Grünen-Chef Felix Banaszak fand Nietzards »ACAB«-Pulli-Selfie »inakzeptabel«, sein Stellvertreter Konstantin von Notz plärrte auf X, Nietzards Foto sei ein »völlig unterirdischer, inakzeptabler und beleidigender Take für alle Polizistinnen und Polizisten«, und auch die sonst für ihre kessen Sprüche bekannte Ricarda Lang hält »ACAB« für »kompletten Schwachsinn«, weil sie in den vergangenen Jahren nur noch politisch arbeiten konnte, weil sie »vom BKA geschützt« worden ist. Alle waren sich einig: Jette geht gar nicht. Der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann legte ihr den Rücktritt nahe, und auch Cem Özdemir nutzte die Causa, um sich für die Nachfolge Kretschmanns in Stellung zu bringen: »Die Polizei verteidigt in höchstem persönlichen Einsatz jeden Tag Werte, die uns als Partei ausmachen. Wer das nicht kapiert, ist bei uns falsch«, biederte sich Özdemir auf X in hyperassimilierter Kartoffelrage an. Und er hat vollkommen recht.
Nietzard ist in der falschen Partei. Denn der Shitstorm um »ACAB« zeigt herrlich unfreiwillig, was für ein reaktionärer Verein die Grünen sind, die in blanker Panik, konservative Wählerschaft zu verlieren, alles abgestoßen haben, was mal mit Stricken im Plenarsaal anfing. Nietzard bedroht die im vergangenen Wahlkampf formvollendete Verspießbürgerung der Grünen, und das muss bestraft werden. Doch das Dümmste an der ganzen Nummer ist nicht der Shitstorm um die Modepunkerin Nietzard. Das Dümmste ist, dass Nietzards »ACAB«-Pulli das rechte Gaga-Narrativ nährt, Grüne hätten irgendwas mit Linken zu tun – die größte Schmeichelei, die Rechten Grünen antun können, um deren verzerrte Selbstwahrnehmung zu befördern. Und mit jedem weiteren Selfie, das Nietzard der Öffentlichkeit androht (»Ich habe noch ein paar andere Pullis im Schrank«), wacht ein rechter Clown mehr morgens auf, der glaubt, wenn er irgendwas mit »linksgrünversifft« ins Internet wichst, Grüne zu beleidigen.
Elena Wolf schrieb in konkret 4/25 über die Ausstellung »PROTEST!« im Landesmuseum Stuttgart
Ende der Schonzeit
Ein halbes Jahrhundert nach der Nelkenrevolution nähert sich Portugal wieder dem Faschismus. Von Carmela Negrete
Noch immer feiert Portugal den 50. Jahrestag der Nelkenrevolution von 1974. Bis 2026 läuft ein staatliches Programm, das die bürgerliche Demokratie Portugals an das Ende der Diktatur von António de Oliveira Salazar erinnern soll. Und während dieser Feierlichkeiten zur kommunistischen Revolution und zum Beginn der Demokratie erzielt ausgerechnet die rechtsextreme Partei Chega unter André Ventura mit 22 Prozent ihr bislang bestes Ergebnis.
Der Weg vom revolutionären Ursprung des heutigen portugiesischen Staates über die Anpassung an das Europa von Maastricht bis zum Widerstand gegen Finanzkrise und Troika ist zugleich die Geschichte des Niedergangs der Linken in Portugal. Das letzte Kapitel dieser Entwicklung wurde am 18. Mai geschrieben, als innerhalb von drei Jahren die dritten Wahlen stattfanden. Dabei errang die rechtskonservative Koalition Aliança Democrática (AD) unter dem derzeitigen Premierminister Luís Montenegro von der irreführend benannten Partido Social Demócrata einen Wahlsieg.
Montenegro hatte die Wahlen vorgezogen, weil er in eine Immobilienaffäre verwickelt war und sich des Vertrauens der Bevölkerung vergewissern wollte. Offenbar besitzt er dieses noch: Von den 116 Abgeordneten, die für eine absolute Mehrheit nötig wären, erhielt seine Koalition immerhin 89 Sitze – und wird voraussichtlich weiterregieren. Die Öffentlichkeit scheint von solchen Skandalen nicht mehr sonderlich beeindruckt zu sein. Es hat sich das Gefühl verbreitet, dass die Justiz wiederholt Verfahren einleitet, um Regierungen zu stürzen. Geradezu grotesk wurde es im Fall von Montenegros Vorgänger António Costa: Er trat zurück, nachdem gegen ihn Anklage erhoben wurde – nur um später, bereits nicht mehr im Amt, zu erfahren, dass die Justiz den »falschen« António Costa im Visier hatte.
Im kurzen Wahlkampf hetzte die extreme Rechte erneut gegen Migranten, insbesondere gegen Angehörige der Roma, und versprach, »Portugal zu retten«. Die Bestrafung »korruptionsverdächtiger Eliten« gehört schon länger zu den zentralen Versprechen von Chega – die Partei erinnert in Tonfall und Strategie zunehmend an Donald Trump. Dieser Diskurs ist allerdings längst bis in die politische Mitte vorgedrungen: So versprach auch die rechtskonservative PSD im Wahlkampf, massenhaft Migranten abzuschieben – ähnlich wie in Deutschland die CDU.
Die wirtschaftsliberale Partei Iniciativa Liberal gewann sieben Sitze und könnte Montenegro unterstützen – für eine Mehrheit reicht das allerdings nicht. Die 58 Abgeordneten der PS könnten gemeinsam mit der AD eine große Koalition bilden. Dies wäre jedoch ein riskanter Schritt, der – wie in Deutschland bei der SPD – langfristig zum weiteren Niedergang der Sozialdemokraten führen könnte. PS-Parteichef Pedro Nuno Santos will dies offenbar nicht mittragen und trat zurück. Noch vor kurzem hatte die PS unter António Costa eine absolute Mehrheit errungen – nun kam sie lediglich auf 23 Prozent und erhielt genauso viele Sitze wie Chega.
Noch düsterer sieht es für die politische Linke aus: Sie ist im Parlament praktisch bedeutungslos geworden. Der Bloco de Esquerda kam auf nur 2 Prozent der Stimmen und stellt einen einzigen Abgeordneten. Der Partido Comunista Português (PCP) sackte auf drei Prozent ab und erhielt nur drei Sitze. Den einzigen Aufstieg im progressiven Bereich verzeichnete die Partei Livre. Sie konnte von vier auf sechs Mandate zulegen. Damit ergibt sich ein Panorama, das eine rechtskonservative Regierung mit knapper Mehrheit zeigt – und mit einer erstarkten extremen Rechten in der Opposition. Für Portugal ist das ein Novum.
Eine treffende Analyse der Wahlergebnisse lieferte das Editorial der spanischen Online-Tageszeitung »Diario Red«, herausgegeben vom ehemaligen Vizepräsidenten und Podemos-Gründer Pablo Iglesias. Er weist darauf hin, dass der Zusammenbruch progressiver Kräfte derzeit in ganz Europa stattfinde und das »das Ergebnis einer strukturellen Strategie« sei, »die seit über einem Jahrzehnt von den Machtzentren Europas verfolgt wird, um zu verhindern, dass der Ausweg aus der Krise von 2008 aus antineoliberaler, demokratischer und transformativer Perspektive erfolgt«.
So sei Syriza in Griechenland zerstört, Podemos in Spanien diffamiert und das Bündnis Geringonça in Portugal gesprengt worden. »Mediale und politische Apparate wurden massiv mobilisiert, um zu verhindern, dass diese Kräfte an die Macht gelangen oder sich dort konsolidieren.« Iglesias sieht keine materiellen Voraussetzungen, um aus der politischen Mitte heraus eine Neugründung Europas zu führen: »Das derzeitige europäische Modell garantiert weder Frieden noch Wohlstand, soziale Stabilität oder Menschenrechte.« Der portugiesische Fall – ein Land, in dem die extreme Rechte bisher kaum eine Rolle spielte und das sich durch eine Revolution neu gegründet hatte – sei »eine Warnung für ganz Europa: Wenn der demokratische Fortschritt der Linken systematisch verhindert wird, ist das Ergebnis nicht Ausgewogenheit, sondern autoritäre Reaktion.«
Eines ist jedenfalls klar: Die wirtschaftliche Krise ist in Portugal chronisch geworden. Die EU-Mitgliedschaft hat die Lage nicht verbessert – im Gegenteil, die Industrie hat darunter gelitten. Trotz niedriger Arbeitslosigkeit können viele Menschen von ihrem Lohn nicht leben. Der Tourismusboom hat vor allem zu unbezahlbaren Mieten geführt, insbesondere in Lissabon. Viele junge Menschen wandern deshalb aus, und die Politikverdrossenheit ist groß. Die Medien diskreditierten systematisch die sozialdemokratische Regierung, an der die Linke beteiligt war – obwohl diese überwiegend sozialdemokratische Politik betrieb.
Carmela Negrete schrieb in konkret 9/24 über den Internethetzer »Alvise« Pérez, der es bis ins Europaparlament geschafft hat
Kann das weg?
Stefan Gärtner über die AfD-Verbotsdebatte
Wäre das Leben einfach, wär’s diese Sache auch: Eine Partei, die Massendeportationen fordert und Deutsche mit Migrationsgeschichte völkisch als »Passdeutsche« verunglimpft; eine Partei, die von einer unwoken Behörde wie dem Verfassungsschutz als »gesichert rechtsextremistisch« eingestuft wird und Leute in den Bundestag entsendet, die sich als »freundliches Gesicht des NS« verkaufen; eine Partei, wie sie sächsischen Handwerksmeistern gefällt, die per Zeitungsannonce Lehrlinge suchen, aber »keine Hakennasen« oder »Bimbos« – eine solche Partei gehört verboten, und man darf dem Heribert Prantl gern recht geben, dass die Mütter und Väter des Grundgesetzes sich genau das gedacht haben, als sie die Möglichkeit des Parteiverbots vorsahen.
Nun ist das Leben auch deshalb so kompliziert, weil sich so gut der rechte Zeitpunkt verpassen lässt. Im zweiten NPD-Verfahren 2017 kam es nicht zu einem Verbot, weil die NPD eine Kleinpartei war und Karlsruhe »hinreichende Anhaltspunkte von Gewicht« fehlten, »die eine Durchsetzung der von ihr verfolgten verfassungsfeindlichen Ziele möglich erscheinen lassen«. Der Gegner war damals zu klein, jetzt er ist eigentlich zu groß: Im Osten ist die AfD flächendeckend stärkste Partei, stellt im Bundestag knapp hinter der CDU die zweitgrößte Fraktion und hat im braven Baden-Württemberg sogar die staatstragenden Grünen in Umfragen überholt. »Das Bundesverfassungsgericht«, weiß Wikipedia, »orientiert sich bei einem Parteiverbot zusätzlich an dem Kriterium des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, wonach ein ›dringendes soziales Bedürfnis‹ Voraussetzung ist«, ein Bedürfnis, das über zehn Millionen Deutsche nachweislich nicht haben.
Die Angst ist berechtigt, dass ein AfD-Verbot wie eine politische Entscheidung zur Konkurrenzbeseitigung aussieht, und das Gros der AfD-Wähler, zumal im Osten, wird hernach nicht zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung zurückkehren, sondern endgültig für sie verloren sein. Dieser Ungeist ist aus der Flasche, und nicht einmal Zahnpasta geht ja in die Tube zurück. Den Versuch ist es trotzdem wert, und sei’s, damit ich nicht unken muss, die Drohung mit dem »Anstreicher« (Brecht) Chrupalla diene dazu, mich »linksradikalen Satiriker« (»Die Zeit«) auf Kurs zu bringen.
Leerstelle
Das Münchner Institut für Zeitgeschichte (IfZ) bemühte sich in seinen ersten Jahren weniger um Erforschung als Verschleierung der NS-Vergangenheit. Von Gerhard Henschel
Die Erforschung der jüngsten deutschen Vergangenheit durch das IfZ stand in den ersten Jahrzehnten unter keinem guten Stern. Was rückblickend auffalle, schreiben die Herausgeber Frank Bajohr und Magnus Brechtken im Vorwort zu dem profunden Sammelband Zeitzeugen, Zeitgenossen, Zeitgeschichte, sei »die faktische Leerstelle einer Darstellung zur nationalsozialistischen Judenverfolgung«. Es passt dazu, was Johannes Hürter in seinem Beitrag über die Tätigkeit des Generalleutnants a. D. Hans Speidel im IfZ mitteilt: »Seit seiner Teilnahme an der ersten (und für eineinhalb Jahre einzigen) Sitzung des Wissenschaftlichen Rats am 28. Februar 1949 bemühte sich der Ex-General, am Institut eine apologetische Geschichtsschreibung zu etablieren.« Speidel regte dort unter anderem die Untersuchung solch interessanter Themen an wie »Die deutsche Führung als Schöpferin neuzeitlicher Panzeroperationen« und »Von der Leistung des deutschen Soldaten«.
Als wissenschaftlichen Mitarbeiter engagierte das IfZ den einstigen Wehrmachtsgeneral Hermann Foertsch, der in seinem 1951 veröffentlichten Buch Schuld und Verhängnis alle noch lebenden ehemaligen Generäle von jeglicher Schuld freisprach und ihnen eine »Verstrickung in Umstände« bescheinigte, auf die sie keinen Einfluss gehabt hätten. »Über die weitere aktive Integration in die NS-Politik, etwa über die willfährige Beteiligung der Militärelite am Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion und am Holocaust, verliert der Verfasser kein Wort« (Johannes Hürter).
Gleichfalls 1951 gab Gerhard Ritter im Auftrag des Instituts Adolf Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier heraus und scherte sich dabei herzlich wenig um die Quellenkritik. Einwände empfand er als anmaßend, obwohl er sich als Historiker doch eigentlich hätte denken können, dass auch er selbst einmal zum Gegenstand der Geschichtsforschung werden und dann so schlecht wegkommen dürfte wie in dieser von Brechtken gezogenen Bilanz: »Machtbewusst und überzeugt von seiner Überlegenheit, meinte er, Kritik leichthändig abtun und Fragen nach seinem Geschichtsbild ignorieren zu können.« Der Institutsleiter Helmut Krausnick wiederum hielt 1965 einen Vortrag mit dem Titel »Unser Weg in die Katastrophe von 1945«, wobei ihm, wie Bajohr und Brechtken schreiben, »offensichtlich gar nicht auffiel, dass die Mehrheit der NS-Verfolgten das Jahr 1945 keineswegs als Katastrophe, sondern vielmehr als Ende der Katastrophe empfunden hatte«.
Aus anderen Beiträgen erfährt man unter anderem, dass Krausnick sich 1959 gegen den Abdruck eines Einsatzgruppenberichts sträubte, in dem der Heeresgruppe des Generals Erich Hoepner die Anerkennung für die Zusammenarbeit bei den Judenverfolgungen ausgesprochen worden war, denn man müsse doch berücksichtigen, dass Hoepner im Gefolge des 20. Juli hingerichtet worden sei; dass der IfZ-Mitarbeiter Hans Mommsen den Historiker Hans Schneider 1962 an der Veröffentlichung einer dem Institut nicht genehmen Studie über den Reichstagsbrand zu hindern versuchte, weil – wie Mommsen sich ausdrückte – »aus allgemeinpolitischen Gründen eine derartige Publikation unerwünscht zu sein scheint« (es wäre, so Mommsen, »indessen vielleicht angezeigt, durch Druck auf Schneider vermittels des Stuttgarter Ministeriums ihn zur Nachgiebigkeit zu bewegen«); oder auch, dass der Institutsleiter Martin Broszat 1973 in einem Gutachten zu dem IfZ-Projekt »Widerstand und Verfolgung in Bayern 1933–1945« feststellte, die Judenverfolgung in Bayern sei bereits »relativ gut dokumentiert« und müsse deshalb nicht vordringlich weiter erforscht werden. Man kann sich nur immer wieder die Augen reiben.
Frank Bajohr und Magnus Brechtken (Hg.): Zeitzeugen, Zeitgenossen, Zeitgeschichte. Die frühe NS-Forschung am Institut für Zeitgeschichte. Göttingen, Wallstein 2024, 390 Seiten, 34 Euro
Gerhard Henschel schrieb in konkret 4/25 über die zweiten Karrieren vormaliger Nazi-Größen in der BRD
Kosmos aus Kraut
Zwischen analogem Futurismus und sozialistischem Alltag: Was bleibt von der »Sattelzeit« des deutschen Pop zwischen 1968 und 1982? Von Barbara Eder
Wenn Germanistenseminare sich dem Populären zuwenden, bleiben die Annäherungsversuche oft ungelenk. Die Ambition, musikalisches Nachkriegsgeschehen auf deutschen Bühnen zu erkunden, endet nicht selten in Songtextexegesen, die sich selbst zu genügen scheinen. Eine hermeneutische Herangehensweise allein offenbart noch kein Protestpotential. Vielleicht haben die Herausgeber der mit 18 Aufsätzen bestückten Anthologie Protestpop und Krautrock deshalb so großzügig Anleihen bei den britischen Cultural Studies genommen – aus dem veränderten Fokus heraus gelingt es ihnen, immer wieder bescheidene Anflüge von Subversion zu orten.
Mit modifiziertem Begriffsbesteck und ethnografischer Distanz haben sich Markus Joch, Christoph Jürgensen und Gerhard Kaiser auf vermintes Gebiet begeben. Ihr Gegenstand: die kurze und vergebliche Hoffnung, dass Populärmusik, made in Germany, mehr sein könnte als eine Fußnote zum angelsächsischen Original. Das Ergebnis ist eine Vermessung jenes Unvermögens, welches am Rio-Reiser-Platz in Berlin-Kreuzberg beginnt. »Es stimmt, Rio Reiser war keine Frau«, zitieren die Herausgeber die frühere Kulturstaatsministerin (und noch frühere Managerin von Ton Steine Scherben), Claudia Roth, im Vorwort. Sie bereicherte damit die Diskussion um die Neubenennung des Heinrichplatzes im August 2022. Mit dem Gegenteil hätte Rio Reiser vermutlich kein Problem gehabt. »Meine Väter sind schwarz und meine Mütter sind gelb, meine Brüder sind rot und meine Schwestern sind hell«, heißt es in seinem Song »Mein Name ist Mensch« von 1971. Die Herausgeber verbuchen dies als Bekenntnis zu einer Diversitätskultur, die ihre Ursprünge anderswo hat.
Folgt man Diedrich Diederichsen, dann stehen Ton Steine Scherben am Zenit der von ihm konstatierten »Sattelzeit«. Als historische Übergangsphase kennt die von 1968 bis 1982 dauernde Periode keinen Höhepunkt und steht doch für eine Zäsur: Krautrock, Protestpop und Neue Deutsche Welle (NDW) markieren diesen Moment – ausgehend von einem imaginären »Nicht-Drüben«. Wer sich auch im anderen, sozialistischen Deutschland nicht zu Hause wähnte, fand hier einen Zufluchtsort – oder brach im Kopf zum »Kosmos« auf. Neben diesen beiden Territorialitäten nennt Diederichsen noch das »Ausland« – berechtigterweise: Wer etwa erinnert nicht Paul Wellers ungeschönten Arbeiterklasseakzent, der in Songs wie »Saturday’s Kids« oder »That’s Entertainment« lyrische Sozialreportagen aus südostenglischen Arbeiterstädten untermalt? Oder die politische Poetik von The Style Council, die mit »Walls Come Tumbling Down« den Protest während des Bergarbeiterstreiks tanzbar machte? Pop, made in Britain, gelang es, die Thatcher-Regierung offen zu attackieren und doch soulful zu sein – der Widerspruch zwischen Feiern und Streiken schien aufgehoben.
Vorbilder wie diese erschweren es, sich abzustoßen. Die deutsche Antwort darauf war rabiat: Nachdem Ton Steine Scherben das freie Menschsein besungen hatte, mussten ihre Nachfolger feststellen, dass mitten im Industriegebiet kein Platz für romantische Schreikrämpfe mehr war. Keine Empörung, keine Emotion, kein Hüftschwung – der Sound der Düsseldorfer Synthetikformation Kraftwerk folgte nicht ironiefrei dem Takt der Fließbänder, auf denen die BRD ihre Kühlschränke, Karrieren und Kanonen fertigen ließ. Während Rio Reiser von Liebe und Revolution träumte, tickte bei Ralf Hütter schon der Zeitzünder des Atomsprengkopfes. Von der deutschen Autobahn ist es nicht weit zum Pop-Nationalismus – diese Gewissheit erschüttert Florian Völkers Text über die Düsseldorfer Kältepriester keineswegs. Der Autor will Kraftwerk nicht als »deutschen Beitrag zum Pop« eingemeindet wissen – und spricht doch von einer »Betonung des Widerstands gegen den vermeintlichen angloamerikanischen ›Kulturimperialismus‹ bei gleichzeitiger Präsentation einer vermeintlich spezifisch ›deutschen‹ Musik«.
Im Gegensatz zum frei mäandernden Krautrock der frühen Siebziger steckten die deutschen Politbands der achtziger Jahre in einem trostlosen Repertoire aus agitatorischer Holzschnittlyrik und musikalischer Magerkost fest. Deklamierte Utopien stießen auf Krautrock-Relikte, durchdrungen von einer typisch deutschen Mischung aus Selbstmitleid und Größenwahn. Der »kosmische Jam« als Fluchtpunkt derer, die den Marsch durch die Institutionen mit dem ersten Takt abbrachen, erweist sich als Splitter einer nie realisierten Möglichkeit.
»Drüben« sang es sich zur selben Zeit nicht viel besser. Michael Rauhut zufolge tobte der politische Kampf in der DDR auf anderen Ebenen. Das östliche Deutschland – mit seiner staatlich gelenkten Kulturindustrie – erwies sich als Sonderzone für subtile Sprachverschiebungen. Auf ihrem Album »Mont Klamott« von 1983 etwa brachte die Rockformation Silly so viel Polysemie in ihre Lyrics, dass die Aufpasser im Kulturministerium zuerst applaudierten – und dann den Bandmitgliedern bis zu siebzehnmal unterschiedlich zensierte Versionen vorlegten.
Was also hatte die »Sattelzeit« der deutschen Musikproduktion zu bieten? Krautrock: Eskapismus durch Auflösung der Songstruktur, Tonbandschleifen und schroffe Lyrics von der Stange. Agitpropformationen wie Floh de Cologne: die Hoffnung, dass politische Parolen doch noch über ängstlich gewienerte Akkorde hinweghelfen können. NDW: die vollständige Kapitulation – Ästhetik ohne Ethik, Pop als subversive Affirmation. Dass das Buch stellenweise versucht, dieses Trauerspiel in einen »internationalen Kontext« einzufügen, erscheint wie ein Akt der Verzweiflung. »Hurra die Welt geht unter« von K.I.Z. als »deutscher Beitrag zur globalen Popgeschichte«? Diederichsens Einsicht, dass es Songs wie diese nicht wegen, sondern trotz Deutschland gibt, hätte allen Beiträgen im Band vorausgehen müssen. Am Ende bleibt der schale Eindruck von einer Musik, die in ihren besten Momenten Anlauf nahm, um weit zu springen – und doch »daheim« landete.
Markus Joch, Christoph Jürgensen, Gerhard Kaiser (Hg.): Protestpop und Krautrock. Band 18 der Reihe Kontemporär. Schriften zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. J. B. Metzler (Springer Nature), Heidelberg 2024, 322 Seiten, 59,99 Euro
Barbara Eder schrieb in konkret 4/25 über die TV-Serie »Euphoria«
Analphabeten für Deutschland
Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat die »beliebteste Partei Deutschlands« als »gesichert rechtsextrem« eingestuft. Von Bernhard Torsch
Während die üblichen Propagandatruppen der deutschen Bourgeoisie von »FAZ« und »Welt« ausritten, um die AfD gegen den Verfassungsschutz in Schutz zu nehmen (»Welt«: »Die Mehrheit der AfD-Mitglieder ist nicht rechtsextrem«; »FAZ«: »Sollen wir nur glauben, aber nicht wissen, dass die AfD eine rechtsextremistische Bestrebung ist? Der Geheimdienst muss seine Gründe offenlegen.«), hätten diese sich gar keine so großen Sorgen um ihre Partei gewordene Schutzmauer gegen eventuell aufmüpfig werdende Proleten machen müssen. Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) ruderte nämlich schon Anfang Mai wieder über den halben See zurück und gab bekannt, es werde die AfD nicht mehr als »gesichert rechtsextrem« bezeichnen und auch alle mit dieser Bezeichnung einhergehenden Überwachungsmaßnahmen einstellen, bis ein Gericht die Einschätzung des BfV bestätigen oder verwerfen werde.
Das heißt auch, die ohnehin nur theoretischen, weil den Wünschen einflussreicher Kapitalfraktionen zuwiderlaufenden Chancen auf ein Verbot der AfD sind für die nächsten Jahre vom Tisch, denn solche Gerichtsverfahren pflegen sich in die Länge zu ziehen, und ohne den Segen der Gerichte mag sich die deutsche Politik nur dann zu Parteiverboten aufraffen, wenn diese Parteien kommunistisch sind. Seit 2021 schon klagt sich die AfD durch die Instanzen, um die damalige Einschätzung des BfV, die Partei sei ein »rechtsextremer Verdachtsfall«, vom Tisch zu bekommen, und immer noch ist die Sache nicht rechtskräftig entschieden.
Das BfV hatte nicht weniger als 1.108 Seiten Material zusammengetragen. Das Parteiprogramm und andere Grundsatzpapiere dienten hierbei ebenso als Quellen wie Wahlkampfreden, Interviews und Social-Media-Posts einzelner AfD-Politker/innen. Der Zeitraum dieser intensiven Beobachtung erstreckt sich über drei Jahre, wobei in den Endbericht auch frühere Dokumente des Verfassungsschutzes einflossen. Im einzelnen wurden die Aussagen von 353 Politikern der AfD in den Bericht ebenso aufgenommen wie Papiere und Stellungnahmen von mehr als hundert AfD-Teilorganisationen. Es scheint so, als hätte das BfV sich bemüht, einen wasserdichten Bericht zu verfassen. Ob das nur so aussieht oder doch juristische Angriffsflächen für die Parteianwälte der AfD und für eventuell mit der AfD sympathisierende Richter eingebaut sind, kann nur wissen, wer den ganzen Bericht gelesen und juristisch verstanden hat und darüber hinaus das esoterische Wissen um die politischen Neigungen aller künftig damit befassten Juristen besitzt.
Die deutsche Öffentlichkeit macht derweil deutsche Sachen. Der CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann wollte am 6. Mai in einer Talkshow mit dem hinterfotzigen Hufeisentheorie-Titel »Wie umgehen mit AfD und Linke?« auf »Welt TV« von einem Verbotsverfahren gegen die AfD nichts wissen. Die vorliegenden Fakten seien für ein Verbot nicht ausreichend, relativierte Linnemann 1.108 Seiten dokumentierter rassistischer und antidemokratischer Hetze, und schob nach, solch ein Verbotsverfahren wäre »politisch hochgradig gefährlich«. Warum? Erstens könnten die Gerichte ein Verbot ja ablehnen, was der AfD dann auf eine von Linnemann nicht erklärte Weise nützen könnte. Zweitens, und hier müssen wir das Linnemannisch ins Deutsche zu übersetzen versuchen, hätten im Falle eines erfolgreichen Parteiverbots zehn Millionen AfD-Wähler keine »politische Heimat« mehr und müssten sich daher eine neue suchen. Was von all dem gegen ein Verbot der AfD spricht, außer Linnemanns Wunsch, diese Partei solle der Union als mögliche Koalitionspartnerin erhalten bleiben, weiß allein der liebe Gott.
Da wir gerade von einem höh’ren Wesen sprechen: Am 2. Mai beglückte der an jenem Tag Gerade-noch-Bundeskanzler Olaf Scholz den Evangelischen Kirchentag in Hannover und warnte in Bezug auf ein Verbot der AfD vor einem »Schnellschuss«. Wichtiger als rasches Handeln sei nun, dass die »vielen Seiten von vielen gelesen werden«, sprach Scholz, als hätte ihn der Geist der Deutschen Christen überkommen. Andere Teile der SPD, etwa die Frankfurter Stadtorganisation, sind hingegen sehr wohl für ein rasch eingeleitetes Verbotsverfahren gegen die AfD. Immerhin wollten die Parlamentsfraktionen von Union und SPD in Zukunft keine AfD-Abgeordneten mehr zu Ausschussvorsitzenden wählen. Friedrich Merz bezeichnete solche Bestellungen als »unvorstellbar«, der SPD-Bundesvorsitzende und Neo-Finanzminister Lars Klingbeil versprach, er würde »niemandem von uns, egal in welcher Funktion, empfehlen, für die AfD zu stimmen«.
Stellungnahmen zur Einstufung der AfD als »gesichert rechtsextrem« kamen natürlich auch aus dem Ausland. US-Außenminister Marco Rubio postete auf X, der Plattform des AfD-Fans und Hitler-Grüßers Elon Musk: »Das ist nicht Demokratie, das ist Tyrannei in Verkleidung.« US-Vizekanzler JD Vance schob nach: »Die AfD ist die beliebteste Partei Deutschlands. Nun wollen die Bürokraten sie zerstören.« Aus Russland eilte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow seinen in Schwierigkeiten geratenen deutschen Freunden verbal zu Hilfe und sagte, die Einschätzung des Verfassungsschutzes sei »eine restriktive Maßnahme gegen eine Partei, die nicht mit dem dominanten Mainstream übereinstimmt«.
Und was sagt die AfD selbst? Björn Höcke, gerichtlich bestätigter Faschist, postete auf X die Drohung, die Mitarbeiter/innen des Verfassungsschutzes sollten sich schon mal nach neuen Jobs umsehen, denn »am Ende wird es wie immer in der Geschichte heißen: Mitgehangen – mitgefangen.« Dass es noch nie in der Geschichte so hieß, sondern immer »mitgefangen, mitgehangen«, also wieder einmal einer der Ober-Deutschen kein Deutsch kann, ist eine hübsche Nebenpointe dieser Farce, überrascht bei den Analphabeten für Deutschland aber nicht mehr.
Bernhard Torsch schrieb in konkret 3/25 über Herbert Kickl
Elder Statesmen
Andreas Vogel über »Golden Years«, die neue Platte von Tocotronic
Die weißen Tauben sind müde«, sang einst Hans Hartz – der Band Tocotronic geht es heute genauso. Lebenssatt und melancholisch besingen sie auf dem Titelstück ihres Albums »Golden Years« den Alltag einer nicht mehr ganz taufrischen Rockband. Selbstironisch, wie es sich für Männer ihres Alters geziemt, geben sie zu verstehen, dass es für sie auch nicht immer einfach ist – das Unterwegssein, das Schlafen in Hotelkettenbetten, die deutsche Provinz et cetera.
Nicht so massentauglich wie die Toten Hosen, nicht so politisch wie die Goldenen Zitronen, nicht so humoristisch wie die Ärzte, nicht so intellektuell wie Blumfeld, nicht so funky wie Die Sterne, schlauer als Sportfreunde Stiller – die »Tocos« sind sich irgendwie treu geblieben, machen immer mal wieder eine Platte und gehen auf Tour. Für viele Hörer/innen war und ist die Band Teil ihrer Biografie. Selbst jene, denen Tocotronic nie gefallen hat, meinen: »Da gibt es doch viel Schlimmere!«
Die Elder Statesmen der Generationen X und Y sind die Konsensband für Fans deutschsprachiger Gitarrenmusik, was vielleicht mehr über ihre Rezipienten und Rezipientinnen als über die Band aussagt. Wenn’s gut läuft, mittlere Beamtenlaufbahn; wenn’s schlecht läuft, Rückkehr zu den Eltern in die Kleinstadt, aus der man entfliehen wollte.
Was aber ist das Geheimnis des Erfolges von Tocotronic? Sie haben das Wesen von Pop verstanden: Es reicht, viel zu behaupten, Coolness und Schlaumeierei im Rahmen der eigenen Möglichkeiten. Verstehen, nachfragen ist Nebensache. Es geht um Posen, ironische Parolen, um den Ausdruck männlicher Gefühle, reduziert auf eine schnoddrige, melancholische Sentimentalität. Musikalisch waren nie Wunder zu erwarten, die Texte oft eher schlicht, mit schiefen Bildern, pathetisch, altklug – egal, andere Bands treten in größere Fettnäpfchen, reden und singen sich um Kopf und Kragen, betteln um Gunst und Anerkennung ihres Publikums. Tocotronic hingegen spricht sich für Flüchtlingshilfe und gegen Nationalstolz und Antisemitismus aus – was mehr ist, als viele Kollegen und Kolleginnen hinbekommen.
Ihre Fans freuen sich jedenfalls schon jetzt auf die Festivalauftritte bei Rock am Ring und Rock im Park im Sommer.
Tocotronic: »Golden Years«, Epic Records
Attacca con fuoco
Stradivari-Violine versus Kalaschnikow-Schießprügel – ein disharmonischer Vergleich von Ulrich Holbein
An jedem Horizont mehren sich Einschläge. Hing irgendwann mal ein Himmel voller Geigen? Stell dir vor, da geigt wer, und keiner hört zu. Stellt euch vor, es ist Krieg, und jeder geht hin. Wo man schießt, da mach dich aus dem Staub. Wo es knallt, da wirst du taub. Wo man fiedelt, lass dich ruhig nieder – böse Menschen haben keine Lieder. Oder grölen halt trotzdem. Beide, das herzlose, hirnlose Tollhaus des Universums wie sogenannte Hochkultur, brauchen jeweils ein Instrument, um loslegen zu können. Wer nichts in der Hand hat und keiner Steckdose hinterherhastet, kommt nicht weit. Geige und Gewehr – beide sollten gut in der Hand liegen. Menschlicher Erfindergeist folgte je einer Vision. Beide Geräte haben nichts dagegen, sich instrumentalisieren zu lassen. Kein Geiger, ohne Geige, vermag zu geigen. Kein Bewaffneter, ohne Waffe, kann Unbewaffnete und Bewaffnete umlegen. Keiner, ohne Bein, kann das Humpeln lassen. Bei geringsten Fingerverletzungen lässt sich kein Fingersatz mehr richtig durchführen. Falls Musiker zu wenig Liebe zur Musik fühlen, spielen sie nicht so gut. Falls Soldaten zu wenig Hass auf Feinde fühlen, schießen sie daneben. Wer das Ziel nicht trifft oder seinen Einsatz verpatzt, hat nicht genug geübt. Standing ovations erfolgen nur, wenn man das Herz rührt oder ins Herz trifft.
Fechten’s Enkel besser aus, spieltechnisch und kriegstüchtig? Stradivari zeugte sechs Kinder. Stradivaris und Kalaschnikows Söhne Omobono, Francesco und Viktor betätigten sich gleichfalls als Geigenbauer beziehungsweise als Waffenkonstrukteure. Früh übt sich, wer Wunderkind und Meister werden will. Kinderpistolen und Bonsai-Geigen reiten und geigen voran. Stradivari fing als Schreiner an. Kalaschnikow fing als Techniker und Panzerkommandant an. Am Drücker sitzen dann aber, statt Wundergreisen, Tattergreise. Stradivari baute noch im Alter von Joe Biden (82) Geigen. Die früher gebauten klangen besser.
Wie heißt der berühmteste Italiener? Dante Alighieri? Casanova? Leonardo da Vinci? Franz von Assisi? Michelangelo? Cäsar? Sicher keinesfalls Berlusconi, Orlando di Lasso, Verdi oder Monteverdi. Wie heißt der berühmteste Russe? Stalin, Tolstoi – Lenin? Rasputin, Puschkin – Putin? Sicher keinesfalls Tschechow oder Turgeniew. Wer wurde berühmter – Fellini, Tarkowski oder Pasolini? Raffael wird auch außerhalb Italiens abgöttisch bewundert. Nicht nur Russland schießt mit Kalaschnikows.
Man könnte die genialen Hersteller Wohltäter nennen. Beide lösen Tränenfluten aus, bei den Eltern gefallener Hoffnungsträger und bei allen, die Klassik nicht verschmähen und sich, gelegentlich, für eine schöne Melodie wegschmeißen könnten. Kalaschnikow befreit sein Volk von Feinden, das ihm dafür die Hände küsst. Wer lieber Rammstein mag, wird keinem Paganini die Hände küssen mögen. Die einen schmelzen dahin; die anderen verbluten. Sonaten und Patronen fliegen durch die Lüfte. Die Kalaschnikow kennt nur eine Spielanweisung: Staccato, nur eine Tempobezeichnung: Presto furioso, unfähig zum Adagio amoroso.
Um die Stradivarigeige webt ein Geheimnis wie ums Lächeln der Mona Lisa. Die Kalaschnikow hat ein Erfolgsrezept, kein Geheimnis. Stradivarigeigen erheben die Seele, Kalaschnikows mähen Körper nieder, samt ihren nur selten erhobenen Seelen. Stradivaris sind kostbar. Kalaschnikows sind robust. Die einen werden immer teurer (18 Millionen), die anderen immer günstiger. In Shanghai werden, für fünf Euro das Stück, Geigen gebaut.
Wenn eine Geige nur 30 Töne hätte, wäre die Musik sofort zu Ende.
Kalaschnikow und Stradivari zerren am Menschen wie Wille und Vorstellung. Kalaschnikow und Stradivari stehen sich – unverwandt? – gegenüber wie Zapfenstreich und Andantino, wie Mao und Dalai Lama, falls zweiter zum Flöten oder Geigen neigte, oder halt wie Mussolini und Iwan Rebroff beziehungsweise wie Putin und Pavarotti.
Stradivari baute circa 1.100 Geigen. 600 davon sind noch übrig. Bis dato wurden über 100 Millionen Kalaschnikows hergestellt, Tendenz: steigend – pro Jahr hagelt’s eine Viertelmillion Tote. Kalaschnikow verdrängte dies nicht. Kalaschnikow fühlte sich belastet vom dem, was er in die Welt gesetzt hatte. Die Stradivari-Bratsche »Macdonald«, angeboten für 45 Millionen Dollar, fand keinen Käufer. Der Erlös für die »Lady Blunt«, gebaut 1721, ging an Earthquake-Opfer in Japan. Stradivaris werden äußerst gern von Kalaschnikows bewacht – one world! Engführung! Die weltgrößte Stradivari-Sammlung befindet sich im Chi-Mei-Museum – doch wo? Auf Taiwan. Wahnsinn!
Viele gestohlene Stradivaris tauchten nie mehr auf. »Fiddle« heißt sowohl Geige wie betrügen.
Outete Gott sich als unmusikalisch? Gott ließ den russischen Waffenkonstrukteur länger leben als den italienischen Geigenbaumeister. Stradivari wurde 93 Jahre alt. Kalaschnikow wurde 94 Jahre alt. Gott ließ Rudolf Heß dreimal länger leben als Franz Schubert – welch Blasphemie gegen den Geist göttlicher Musik! Violoncellokästen sehen leider wie Särge aus. Geigenkästen sehen leider wie Kindersärge aus. Katzen können nicht lächeln, aber töten. Kinder lernen nicht mehr zu grüßen, zu lesen oder für Greisinnen und Opas in der U-Bahn aufzustehn. Werden sie jemals das Ballern verlernen?
Ulrich Holbein schrieb in konkret 3/25 über das Fangnei
Realitätsverzerrung
Thomas Schaefer über die falschen Wahrheiten des Nikolaus Blome
Gesetzt den Fall, dass die These stimmt, derzufolge Wissen Macht sei, dann müsste die deutsche Linke allwissend sein, denn laut Nikolaus Blome ist sie es, die mit ihrer Diskurshoheit und den damit einhergehenden »Realitätsverzerrungen« das Land beherrscht. Andererseits kann das aber nicht stimmen, da »die politische Linke« (die laut Blome die Grünen, die SPD, aber auch CDU und CSU umfasst, alle »einschlägigen Aktivisten« also) ja nicht weiß, sondern nur glaubt, wobei die Glaubenssätze keinen harmlosen Kinderglauben ausdrücken, sondern Dogma, Ideologie. Nicht gut.
Wie auch immer. Klar ist: Nikolaus Blome, der sich vom »Spiegel« über die »Bildzeitung« zu RTL hochgearbeitet hat, zählt zu den einschlägigen Wissenden und lässt uns – die Bewohner »unseres Landes«, welches die Linken in die Irre führen – an diesem Wissen durch die Behandlung von einem runden Dutzend der oben genannten Glaubenssätze teilhaben. Die lauten etwa: »Klimaschutz ist alles«, »die meisten Arbeitslosen können nicht arbeiten«, »Rentner sind arm«. Was Linke halt so glauben beziehungsweise behaupten. Und was natürlich falsch ist. Richtig wäre: »Klimaschutz ist nicht alles«, »die meisten Arbeitslosen können arbeiten, wollen aber nicht«, »Rentner sind wohlhabend«. Woraus bezieht der politische Blome sein Wissen? Aus Fakten, Zahlen, Daten – unwiderlegbaren Wahrheiten: »Während insgesamt weniger als die Hälfte aller Zuwanderer und Flüchtlinge aus den acht Herkunftsländern eine reguläre Arbeit hat (44 Prozent), gilt in der Gruppe der zwischen 2013 und 2019 Geflüchteten: ›Acht und mehr Jahre‹ nach Ankunft haben 68 Prozent eine reguläre Arbeit«. So eindeutig steht’s um die Flüchtlinge, die alles daran gesetzt haben, um eigenartigerweise »mit dem eigenen Körper deutschen Boden zu erreichen«.
»Und nun mal ehrlich«: Falsche Wahrheiten ist keine Dutzendware, sondern eine Streitschrift, wie seit Zolas »J’accuse« keine war. Wer soll sie lesen? Die Linken, damit sie aufhören, das Land in die Irre zu führen? Sinnlos. Die Rechten? Wissen eh Bescheid. Bleiben noch wir, die in unserem Land in die Irre Geführten, weil wir nach der Lektüre nicht mehr verführt werden können von den Linken, sondern die echten, wirklichen Wahrheiten kennengelernt haben. Verstanden?
Nikolaus Blome: Falsche Wahrheiten. 12 linke Glaubenssätze, die unser Land in die Irre führen. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2025, 208 Sei-ten, 22 Euro
Historischer Stuss
Florian Sendtner über geschichtsvergessene Kompromissbereitschaft im Bundestag
Kaum einer der insgesamt 45 Redner der letzten Debatte des 20. Bundestags versäumte es, die anstehende Abstimmung über die Möglichkeit der fast schrankenlosen Kreditaufnahme »historisch« zu nennen. Drei Jahre lang hatte Friedrich Merz den strengen Sparkommissar gegeben und der Ampelregierung jede Lockerung der Schuldenbremse mit Aplomb verweigert; nun, da er mit Hilfe der Sozialdemokraten Kanzler werden sollte, zauberte er noch mit dem alten Bundestag am 18. März 2025 mit freundlicher Unterstützung der Grünen mal eben eine Billion aus dem Hut – wahrlich ein »historischer« Tag.
Nur ein Redner setzte noch eins drauf und sprach davon, man müsse »in historischen Zeiten einen historischen Kompromiss« eingehen: SPD-Chef Lars Klingbeil. Und keiner der noch folgenden 37 Redner in der noch über vier Stunden dauernden Debatte ging darauf ein. Kein Wunder. Bis auf eine Handvoll Linker wird niemand im Hohen Hause gewusst haben, welchen Begriff der SPD-Vorsitzende da gerade bemüht hatte, er selbst schon gar nicht.
Dabei ist es durchaus hilfreich, sich kurz an den realhistorischen Historischen Kompromiss zu erinnern, der vor einem halben Jahrhundert in Italien fünf Jahre lang heftig diskutiert und nur ansatzweise realisiert wurde, bevor er sich mit einem Knall in Luft auflöste: eine strategische Zusammenarbeit zwischen der Italienischen Kommunistischen Partei unter Enrico Berlinguer – von dem die Idee stammte – mit anderen Parteien, vor allem der Democrazia Cristiana, bei der Aldo Moro für den »compromesso storico« plädierte. Der 1978 von den Roten Brigaden entführte und ermordete Erzkatholik und Papstfreund Moro war, gemessen an solchen Früchtchen wie Lars Klingbeil, ein regelrechter Kommunist.
Dass die SPD ihre Zustimmung zum Billionen-Kredit, der Friedrich Merz im Gegensatz zu seinem sozialdemokratischen Vorgänger vier sorgenlose Jahre im Kanzleramt bescheren wird, als »historischen Kompromiss« verkaufte, zeigt, wie sich alles ins Irreale und Irre verschoben hat. Der nächste wird dann wohl mit der AfD geschlossen, die sich derweil genüsslich zurücklehnt und die CDU/CSU/SPD-Regierung in bester Trump-Manier schon vorab als »links-grünes Kartell« schmäht.
Frontfunk
Jürgen Roth über die Staatsmedien im Vorkrieg
Mit Erstaunen las ich in Stefan Gärtners Beitrag »Falsche Fragen« (konkret 4/25), es zeige »die ungerührte Anwesenheit des freundlichen Personals von ARD und ZDF, dass es den öffentlich-rechtlichen Rundfunk noch gibt, und wo es den gibt, hat Faschismus noch nicht gesiegt«. Ich weiß nicht, welche Sendungen Stefan, der mein Freund ist, außer der Wahlberichterstattung schaut und welche Radioprogramme er einschaltet. Sollte Faschismus etwas mit der Bündelung der herrschenden Kräfte und der Formierung der sogenannten öffentlichen Meinung zu tun haben, könnte er zu dem Schluss kommen, dass er Quatsch redet.
Man muss sich ja nicht die Schubkarren voller medienwissenschaftlicher Studien, die bis ins Detail belegen, dass seit »dem Maidan« peu à peu ein nibelungentreueartiges Bündnis zwischen den Öffentlich-Rechtlichen und der Politik entstand, vor die Haustür kippen lassen. Es genügte, mit renommierten ehemaligen Mitarbeitern des besagten Apparats zu plaudern. Das sind Leute – und zwar nicht wenige –, die wegen Unbotmäßigkeit gefeuert wurden oder kapituliert und das Weite gesucht haben.
Nehmen wir nur das Feld der Außenpolitik. Von morgens bis in die Nacht steht die Front der Mobilmachung ei-sern – überall, von Phoenix und DLF bis zu ARD und ZDF, ständig und im Gleichschritt dieselben militaristischen Hetzer und Rassenkundler aus den transatlantischen Thinktanks: Gustav Gressel, Carlo Masala, Sönke Neitzel, Claudia Ma-jor, Nico Lange, Florence Gaub, Roderich Kiesewetter.
Und das charmant geifernde, vor Kriegslust sabbernde Topmodel Marie-Agnes Strack-Zimmermann. Die unermüdliche, von den Öffentlich-Rechtlichen auf den Thron gehievte Russenfresserin brachte es jüngst – diesmal in der Ostmark, im ORF – fertig, den slawischen Untermenschen und »Maneater« Putin, der, so »Strack-Rheinmetall« (Martin Sonneborn), »jeden Tag vier-hunderttausend Menschen umbringt«, geradezu zum Superhitler zu erklären (»Wladimir Putin ist ein Mörder, ein Killer, der Hunderte von Millionen Menschen unter die Erde gebracht hat«) – und vom Moderator, wie’s allerorten Usus ist, keine Nachfrage, kein Widerspruch.
Das nennt man Kollusion – oder Faschisierung durch Unterlassung und die systematische Protektion von Lüge und greuelmärchenhafter Ideologie.
Feindliches Vokabular
Weil sie marxistisches Vokabular verwendet, soll eine linke Aktivistin in Bayern noch nicht einmal zum Referendariat zugelassen werden. Von Michael Csaszkóczy
An Appellen, die Verteidigung der Demokratie erfordere gerade heute Zivilcourage und demokratisches Engagement, herrschte in den vergangenen Monaten kein Mangel. Welche Folgen diese vielbeschworene Zivilcourage haben kann, erlebt die Klimaaktivistin Lisa Poettinger derzeit in Bayern.
Als die Ampelregierung im Jahr 2023 ankündigte, »dafür zu sorgen, dass Verfassungsfeinde schneller aus dem Dienst entfernt werden können«, und im Folgejahr zunächst das Disziplinarrecht massiv verschärfte (konkret 7/24), schien das in erster Linie eine Ermutigung an die Landesregierungen zu sein, mit Entlassungen aus politischen Gründen weniger zögerlich zu sein. Insbesondere sozialdemokratische und grüne Politiker/innen beeilten sich zu betonen, es verstehe sich ja von selbst, dass diese Politik in erster Linie gegen rechts gerichtet sei.
Wie die Realität aussieht, lässt sich derzeit in Bayern beobachten, wo die aus der Zeit des Nationalsozialismus stammenden und im deutschen Beamtenrecht nach wie vor verankerten Gesinnungsprognosen wie bereits in den siebziger und achtziger Jahren in erster Linie gegen Linke in Stellung gebracht werden. Als letztes Bundesland hat sich Bayern 1991 von der Regelanfrage beim »Verfassungsschutz«, dem Kernelement des Radikalenerlasses von 1972, verabschiedet – nicht ohne eine besonders perfide Nachfolgeregelung zu etablieren: Bewerber/innen für den Öffentlichen Dienst müssen seither einen Fragebogen ausfüllen, in dem sie angeben, ob sie Mitglied in einer Organisation sind oder waren, die vom Inlandsgeheimdienst als »extremistisch« oder »extremistisch beeinflusst« geführt wird. Aufgeführt sind zum Beispiel sowohl der Studierendenverband der Linkspartei (SDS) als auch deren Jugendorganisation Solid, nicht jedoch die AfD. Bei Verweigerung einer solchen Selbstdenunziation wird die Bewerbung sofort abgelehnt, bei wahrheitsgemäßer Angabe einer Mitgliedschaft erfolgt die Überprüfung des Delinquenten durch den »Verfassungsschutz«.
Schon im August 2022 lehnte die Technische Universität München die Anstellung des Wissenschaftlers Benjamin Ruß aus politischen Gründen ab. Zur Begründung wurde eine Einschätzung des Inlandsgeheimdienstes herangezogen, die Ruß eine »wissenschaftlich-marxistische Weltanschauung« attestierte, die sich an der Verwendung »klassischer Begriffe wie Faschismus, Rassismus, Kapitalismus, Polizeigewalt« festmachte. Im Juli 2024 wurde Ruß’ Klage gegen die Verweigerung der Anstellung vom Arbeitsgericht rechtskräftig zurückgewiesen. Das ist kein gutes Zeichen. Bislang galten Berufsverbotsverfahren vor Arbeitsgerichten als sehr viel aussichtsreicher für die Betroffenen als Verfahren vor den Verwaltungsgerichten, die in ähnlich gelagerten Fällen für BeamtInnen und BeamtenanwärterInnen zuständig sind.
Im November vergangenen Jahres traf es nun die Lehramtsanwärterin Lisa Poettinger. Anlass für die Überprüfung war ihre wahrheitsgemäße Auskunft im bayerischen Fragebogen, beim Offenen Antikapitalistischen Klimatreffen München aktiv zu sein. Der Inlandsgeheimdienst lieferte daraufhin weitere bedrohliche Informationen:
Poettinger habe unter dem Motto »Gemeinsam gegen rechts« Demonstrationen gegen die AfD organisiert. Sie habe an den Demonstrationen für den Erhalt des Dorfes Lützerath, das dem Braunkohlebergbau zum Opfer fiel, teilgenommen. Die Internationale Automobil-Ausstellung IAA habe sie als ein »Symbol für Profitmaximierung auf Kosten von Mensch, Umwelt und Klima« bezeichnet. Vorsorglich stellt das bayerische Kultusministerium klar, dass weder das Engagement gegen die AfD noch der Einsatz für den Klimaschutz zu beanstanden sei. Wer dergleichen allerdings mit einer Ablehnung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung verbinde und dabei gar »marxistisches Vokabular« benutze, sei als deutscher Staatsdiener nicht zu tolerieren: »Nach Mitteilung des Verfassungsschutzes vom 05.11.2024 stammt der Begriff ›Profitmaximierung‹ aus dem Kommunismus und wertet Gewinnstreben in der Wirtschaft ab«, heißt es im ablehnenden Bescheid, mit dem Lisa Poettinger wenige Tage vor dem Beginn des Referendariats die Zulassung endgültig verwehrt wird. »Auch ein Eintreten für den ›Klassenkampf‹ ist mit dem Eintreten für die freiheitliche demokratische Grundordnung nicht vereinbar, sondern steht hierzu in diametralem Gegensatz.«
Auf über hundert weiteren Seiten dokumentiert das Schriftstück die Bemühungen der Landesregierung, ihre Entscheidung juristisch gegen Einwände abzusichern. Mit gutem Grund: Mit der Verweigerung der Zulassung zum Vorbereitungsdienst geht Bayern im »Kampf gegen Verfassungsfeinde« (Innenministerin Nancy Faeser, SPD) einen entscheidenden Schritt zurück in die Frühzeit des Radikalenerlasses. Das dürfte im nun anstehenden Rechtsstreit eine zentrale Rolle spielen.
Bisher galt das Referendariat – so mehrere höchstinstanzliche Urteile aus der Zeit des Radikalenerlasses – als integraler Bestandteil der Ausbildung für den Lehrberuf, weshalb die Kultusministerien verpflichtet seien, den Zugang dazu auch dann zu gewährleisten, wenn die von ihnen vorzunehmende Gesinnungsprognose negativ ausfalle. Immerhin eröffnet der Vorbereitungsdienst zumindest die theoretische Möglichkeit, als voll ausgebildete Lehrkraft an nichtstaatlichen Schulen zu arbeiten.
Wenn keine marxistische Gesinnung zu vermuten ist, entscheidet das bayerische Innenministerium übrigens weitaus großzügiger. Die »Tageszeitung« veröffentlichte kurz nach Poettingers Berufsverbot Recherchen, denen zufolge an einem Gymnasium in Franken 2021 ein Gymnasiallehrer verbeamtet wurde, der sowohl im völkischen Jugendbund »Sturmvogel« als auch in der ebenfalls völkisch orientierten »Alten Breslauer Burschenschaft der Raczeks« Mitglied war. Ein Ministeriumssprecher erklärte, dass »Aktivitäten in rechtsextremistischen Gruppierungen in der Jugend- und Studienzeit« des Beamten bekannt seien. Von diesen habe sich Michael Z. aber bei seiner Bewerbung als Lehrkraft »sehr deutlich und klar distanziert«. Es muss ein sehr plötzlicher Gesinnungswechsel gewesen sein. Noch im Jahr 2016 ist seine Teilnahme an einer Aktion der Identitären in Wien dokumentiert – offensichtlich in zentraler Funktion mit einem Megafon in der Hand.
Mit glaubhaften Distanzierungen kennt sich Anna Stolz, die bayerische Kultusministerin, die nun das Berufsverbot gegen Lisa Poettinger verhängt hat, sicherlich aus. Sie gehört der Freien Wählervereinigung Hubert Aiwangers an, mit dessen Hilfe sich Markus Söder im November 2023 den Regierungserhalt sicherte – ungeachtet der Verstrickung Aiwangers in eine Affäre um bei ihm in seiner Schulzeit sichergestellte antisemitische Hetzflugblätter.
Das bayerische Kultusministerium wirft der Klimaaktivistin insbesondere vor, nicht die ihr offenstehenden Möglichkeiten zur Distanzierung genutzt zu haben. Im Ablehnungsschreiben heißt es: »Ebenso ist weder Ihren Bewerbungsunterlagen noch Ihrem Anhörungsschreiben zu entnehmen, dass Sie sich von dem Engagement für die Gruppierung Offenes Antikapitalistisches Klimatreffen München distanzieren – im Gegenteil: Sie drückten lediglich Ihre Verwunderung aus, dass die Gruppierung als extremistisch eingestuft wird.«
Die von ihr geforderte moralische Flexibilität fehlt Lisa Poettinger offensichtlich. In einem Interview mit dem »Neuen Deutschland« bekundete sie: »Ich wünsche mir von Herzen, Lehrerin zu werden, und werde dafür auch kämpfen. Aber ich glaube, dass ich flexibel sein muss und mich nicht darauf versteifen sollte, dass es unbedingt das Lehramt wird. Es gibt auch andere Möglichkeiten. Mir ist auch der Zustand der Welt wichtiger als meine Karriere. … Ich glaube, dieses Weitermachen-trotz-alledem: Das ist es, worauf es ankommt. Klar, als Marxistin finde ich, es braucht Klassenkampf, um die Macht des Kapitals zu brechen. Aber das ist zu abstrakt, um Menschen zu motivieren. Was motiviert, ist eine Gemeinschaft von Gleichgesinnten, die für Gerechtigkeit einsteht und nicht zuschauen will, wie die Welt den Bach runtergeht.«
Tatsächlich dürfte der größte Schaden, der durch die Wiederbelebung der Berufsverbote droht, nicht in der Zerstörung einzelner Lebensentwürfe bestehen, sondern in einem Klima der Angst, der Einschüchterung und der Denunziation. Als Beispiel mag der Fall eines Bundestagskandidaten der Linkspartei dienen, dem nahezu gleichzeitig mit Lisa Poettinger wegen seiner Mitgliedschaft in der Jugendorganisation Solid die Verlängerung seines Studijobs in der EDV-Betreuung der Universität Augsburg verweigert wurde. Der Linken-Politiker beteuerte, doch nur passives Mitglied bei Solid gewesen zu sein, er habe dort nur aus professionellem Interesse als Erziehungswissenschaftler wenige Male vorbeigeschaut. Darüber hinaus kenne er jemanden, der dort sehr viel aktiver sei als er und dennoch unbehelligt an der Universität arbeite.
Genützt haben ihm solche Unterwerfungsgesten nichts. Aber sie zeigen, wohin ein Land steuert, in dem es zu einem immer größeren persönlichen Risiko wird, links zu sein. Schon jetzt haben nach Brandenburg auch Hamburg und Schleswig-Holstein die Wiedereinführung der Regelanfrage angekündigt.
Michael Csaszkóczy schrieb in konkret 11/24 über den Prozess gegen die Burschenschaft Normannia in Heidelberg
Des geht sie scho aus!
Großartiges neben Kleinkalibrigem: Als Dichter hat Georg Kreisler zwar zu Recht Selbstzweifel gehabt, aber sich stets die Geste des freien Geistes bewahrt. Von Marco Tschirpke
Die ständige Unzufriedenheit mit dem eigenen Geschreibsel ist schwer zu ertragen, so unzufrieden mit seiner Arbeit ist kein Rechtsanwalt, kein Arzt, kein Maurer, kein Tischler.« Dieser Satz aus dem Vorwort des pointierten Zweiflers Georg Kreisler zu seinem Gedichtband Zufällig in San Francisco nimmt einen Eindruck vorweg, den die Lektüre seiner Verse ebenso erzeugen kann – und soll. Zum Glück wissen wir um die immensen Verdienste des charmanten, zerrissenen, zänkischen Alten.
»Ein Kritiker hat mich bezeichnet als Kabarettisten!« Und tatsächlich umreißt der Begriff »Kabarett« nicht entfernt das Spektrum des augenzwinkernden Schwarzsehers. Der ungereimten Kleinschreibungslyrik abhold, spannt Kreisler seine Themen weit (und manchmal breit) über den Ozean. Dieser durch und durch säkulare Österreicher mit jüdischen Wurzeln, der vor den Schergen eines anderen Österreichers in die USA emigrierte (unfreiwilliger Transatlantiker!), hat eine Menge im Rucksack: die Nüchternheit des Weitgereisten, den bitteren Humor des Ausgegrenzten, die souveräne Geste des freien Geistes. Ein zuverlässiger Parteigenosse ist er nicht und will er nicht sein. Sein Publikum sieht sich in ihm wie in einem Zerrspiegel. Die desillusionierte Bürgerlichkeit artikuliert sich in Kreisler in mehr als ihrer Befindlichkeit: Die Zeitläufe haben ihre Wunden in den Künstler geschlagen. Auf kein Pferd zu setzen, scheint ihm die beste Option.
»Mir tut jedes Gedicht, das ich geschrieben habe, ein bißchen leid, denn nichts wird so unhöflich abgefertigt wie ein Gedicht.« Darauf folgt eine unhöfliche Abfertigung von Karl Kraus, der »in seiner grenzenlosen Eitelkeit und Selbstüberschätzung auch fragwürdige Gedichte geschrieben« habe. Nun, sein amerikanischer Kollege Tom Lehrer wüsste selbiges über Kreisler zu sagen. Bereits die schöne Stabreimerei des Originaltitels »Poisoning Pigeons in the Park« weist allein T. Lehrer als den Urheber aus. Wie sollte Kreisler ahnen, dass ausgerechnet ein Kuckucksei sein Signature song werden würde? Bar jeden handwerklichen Mangels, findet sich Großartiges neben Kleinkalibrigem, abgezirkelt Konzises neben wild Assoziiertem. Und nicht selten – wie hier in der Schlussstrophe des Gedichts »Die Maschine« – taucht sie auf, die verschmitzt vorgetragene Sorge, dazuzugehören:
Sie sind Professor und Soldat,
Equilibrist und Demokrat,
und sie besitzen ein Mandat
als Konkubine.
Und eines Tages, fürchte ich,
entdeckt man mich versehentlich
und kommt hierher und schleudert mich
in die Maschine.
Was sich, nebenbei, von Kreisler lernen lässt, ist die Fertigkeit, nach dem Erfolg zu schielen, ohne betriebsblind zu werden. Der Mann konnte den Opportunismus auf den Tod nicht ausstehen, auch wenn er sich ihm bisweilen lieber durch Flucht entzog als zu widerstehen.
In der Mitte des Buchs steht ein »Zwischenwort«, das fast allein die Neuveröffentlichung (das Werk erschien erstmals 2010) rechtfertigt. Denn es entfaltet ein ganzes Tableau gedichteter Kriegshetze aus dem Jahr 1914. Der militaristische Schund aus den Federn von Richard Dehmel, Alfred Kerr, Gerhart Hauptmann und Thomas Mann bildet nur den Auftakt zu einer Sinfonietta der Widerwärtigkeiten: »Auch die fortschrittlichen Komponisten Schönberg, Berg und Webern, die vom österreichischen Staat nur Missachtung und Ablehnung erlebt hatten, ja sogar der Psychiater Sigmund Freud waren damals kriegsbegeistert, und unter anderem gab es auch ein schreckliches ›Manifest‹, das zum ›Daseinskampf‹ aufrief und von etlichen Künstlern, beispielsweise Max Reinhardt, Siegfried Wagner, Engelbert Humperdinck und auch Max Planck unterzeichnet wurde.«
Wir erinnern uns heute ganz ähnlicher Manifeste, unterschrieben von Autoren wie Daniel Kehlmann, Herta Müller, Maxim Biller, Wladimir Kaminer, Ilko-Sascha Kowalczuk, Sascha Lobo, die mehr und mehr Waffen für die Ukraine und gegen Russland fordern. Zumindest in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit sind das ja auch Künstler. Und sie dürfen irren, selbstverständlich. Aber es macht einen Unterschied, ob sich mein Installateur hinsichtlich der Steigung eines Gewindes irrt oder ob ein Mensch mit Öffentlichkeit eine Schraube locker hat. (An dieser Stelle seines Buchs übrigens hätte Kreisler Gelegenheit gehabt, Karl Kraus wieder ins rechte Licht zu setzen – der nicht nur der konsequenteste Antimilitarist der damaligen Zeit, sondern auch jener Mann war, ohne dessen »Fackel« Kreisler wohl kaum gewusst hätte, wer sich 1914 alles zum Kriegsnarren gemacht hatte.)
Kreisler, seltsam genug, fühlt sich der Aufklärung nicht verpflichtet. Zumindest behauptet er: »Ich persönlich fühle mich im Dunklen des Mythos wohl, im Licht zerrinnt alles.« Schreibt einer, der als Aufklärungsoffizier der US-Armee ins besiegte Hitlerdeutschland zurückkehrte, um Nazigrößen wie Julius Streicher und Ernst Kaltenbrunner zu verhören.
Dass die Gedichte Georg Kreislers auf den ersten Blick seinen Liedern nicht das Wasser zu reichen scheinen – wen wundert’s? Muss man sie doch selber lesen und richtig betonen. Wer kann das schon?! Mit seinem zu Kunst amalgamierten Dagegen (gegen alles Staatliche, Systemische, Hierarchische) war und ist er anschlussfähig für die linke Mittelschicht. Vorteil des gutgekleideten Anarchisten: Auch das bürgerliche Publikum, wenn es auf sich hält, hält ihm die Stange. Wenn es seiner Unterhaltung dient, wusste Kreisler, ist es zu jedem Missverständnis
bereit.
Georg Kreisler: Zufällig in San Francisco. Unbeabsichtigte Gedichte. Neuausgabe. Verbrecher-Verlag, Berlin 2025, 128 Seiten, 22 Euro
Marco Tschirpke schrieb in konkret 9/24 über den A.-und-O.-Alltag
Falsche Vertraulichkeit
Der Roman Immer wenn ich dieses Lied höre von Lola Lafon nimmt das Schicksal Anne Franks zum Anlass für unerträglichen Kitsch. Von Thomas Schaefer
Als »berührend« lobten erste Reaktionen des deutschsprachigen Feuilletons Lola Lafons Buch Immer wenn ich dieses Lied höre, und das dürfte genau die Wirkung sein, welche der französischen Autorin vorgeschwebt hatte, als sie auf die kühne Idee gekommen war, eine Nacht im Anne-Frank-Haus zu verbringen. Also in jenen Räumen in der Amsterdamer Prinsengracht, in denen die vierköpfige Familie Frank sowie vier weitere Personen sich auf engstem Raum vor den Nazis versteckten, bevor sie verraten und deportiert wurden. Getreulich referiert Lafon die Geschichte Anne Franks und ihres berühmten Tagebuchs, erzählt, wie das Haus zum Museum wurde, und leitet aus der Verfolgungsgeschichte ihrer eigenen jüdischen Familie ihre Motivation ab, »im Versteck von Anne Frank« zu nächtigen, »um den Raum am eigenen Leib zu spüren«. Dabei ist ihr durchaus bewusst, was für ein Ausmaß an Projektionen die Anne-Frank-Rezeption aufweist, ja, sie stilisiert sich selbst als »die, der die Romantisierung der Schoah unerträglich ist«.
Dabei ist diese Romantisierung exakt ihre Sache, was im Grunde schon in der Idee angelegt ist, durch einen Aufenthalt in den historischen Räumen eine Nähe herzustellen, die sich per se verbietet. Ob die Räume nun leer sind oder rekonstruiert wären: Es ist selbstverständlich, das sich kein Mensch in die Lage eines Mädchens versetzen kann, das mehr als zwei Jahre lang auf engstem Raum leben und sich still verhalten muss, rund um die Uhr der Angst vor Entdeckung, Vertreibung, Lager, Tod ausgesetzt. Lafon macht es dennoch. Sie erhöht sich selbst auf unerträgliche Weise: »Ich war so nahe bei ihr, dass ich nicht mehr Anne Frank sah, sondern einen Menschen namens Anne.« Das alles ist nicht nur anmaßend, das hohle Pathos instrumentalisiert nicht nur die Shoa in einer auf Affekte abzielenden Weise, es ist: Kitsch. Angesichts von Sätzen à la »Anne Franks Ich spiegelt alles wider, was uns gehört und was sie verloren hat: das Tageslicht, die Brise, die blendende Sonne und die unendliche Schwärze des Unsichtbaren zwischen den Sternen« kann man der Autorin nur in einem recht geben: »Ich bin nicht die, die dieses Buch schreiben sollte.«
Lola Lafon: Immer wenn ich dieses Lied höre. Im Versteck von Anne Frank. Aus dem Französischen von Elsbeth Ranke. Aufbau, Berlin 2025, 173 Seiten, 22 Euro
Die lauten und die leisen Töne
Stefan Gärtner über Pankaj Mishras bigotte Solidarität mit den Palästinensern
Lange Zugfahrt gehabt, »Spiegel« gekauft und die Abrechnung des »indischen Stardenkers Pankaj Mishra, 56, mit den westlichen Unterstützern der israelischen Kriegsführung« gelesen: »Antisemitismus ist eine sehr starke Kraft. Er darf niemals unterschätzt werden. Aber niemand hat einen Anspruch auf Unfehlbarkeit, indem er sich auf eine Opfererfahrung beruft, die nicht er selbst gemacht hat, sondern seine Eltern oder Großeltern. Schon gar nicht kann dies ein Nationalstaat tun, der die Chance auf Frieden mit seinen Nachbarn ausschlägt und das Land von Menschen besetzt, die er vertrieben hat. Und wir anderen, auch die Deutschen, müssen die moralische Freiheit haben, das Falsche als falsch zu bezeichnen, unabhängig von unserer Vergangenheit.«
Analog müssten Palästinenser sich nicht mehr auf eine Vertreibungserfahrung berufen, die nicht sie selbst, sondern ihre Groß- oder Urgroßeltern gemacht haben, könnten ihren Anspruch auf Unfehlbarkeit aufgeben und sich, gemeinsam mit unseren postkolonialen Stardenkern, daran erinnern, wer jahrzehntelang die Chance auf Frieden mit seinen Nachbarn ausgeschlagen hat. Israel war’s nicht. Es reichte bereits im Jahr der Staatsgründung, welche arabische Armeen mit einem Überfall quittiert hatten, »allen Nachbarstaaten und ihren Völkern die Hand«: »Wir appellieren – inmitten des Angriffs, der schon seit Monaten gegen uns geführt wird – an die arabischen Einwohner des Staates Israel, den Frieden zu bewahren und am Aufbau des Staates auf der Basis von vollständiger und gleichberechtigter Staatsbürgerschaft sowie der gebührenden Vertretung in allen provisorischen und ständigen Einrichtungen mitzuarbeiten.«
Der Appell eines Freitagsgebets, vom palästinensischen Fernsehen im August 2001 übertragen, hatte eine leicht andere Note: »Wir werden sie in Hadera in die Luft jagen, wir werden sie in Tel Aviv in die Luft jagen und in Netanya, so dass Allah uns als Herren über dieses Gesindel emporheben wird … Gepriesen sei, wer eine Gewehrkugel aufbewahrt, um sie durch den Kopf eines Juden zu schießen. Wir werden Jerusalem als Eroberer betreten, und Jaffa, Haifa und Aschkelon.«
Denn Antisemitismus, nicht wahr, ist eine sehr starke Kraft.
Sport ist doch Mord
Deutsche Pädagogen plädieren für körperliche Kriegsertüchtigung. Von Florian Sendtner
Abkehr »von der schlechten Tradition, die Leibesübungen als eine Art von Erziehung zu seelischer und körperlicher Militärtauglichkeit zu betrachten«: So formulierte der Sozialdemokrat Carlo Schmid die Aufgabenstellung für den Sportunterricht in den Nachkriegsjahren. Carlo Schmid wird gern als einer der »Väter des Grundgesetzes« hochgehalten; was macht man also, wenn man heute beim Thema Turnen vs. Wehrsport diametral anderer Ansicht ist? Ganz einfach: Man zitiert trotzdem Carlo Schmid und liest den Satz kurzerhand so, als stünde da »Rückkehr zu« und nicht »Abkehr von«. Um das Ganze endgültig zu besiegeln, fügt man noch ein donnerndes Diktum aus Adenauers Ansprache zur Kalten Kriegsweihnacht von 1952 bei (»Frieden ohne Freiheit ist kein Frieden«) und behauptet, in dem Punkt seien sich Schmid und Adenauer einig gewesen. Na, sehen Sie!
Michael Krüger, emeritierter Sportwissenschaftler, hat diesen argumentativen Salto mortale im vergangenen August im »Sportunterricht« hingelegt, dem offiziellen Organ des Deutschen Sportlehrerverbands. Reaktionen? Keine. Erst als die »Taz« im Januar bei »Sportunterricht« nachfragte, erfuhr man, es habe »ein, zwei Lehrerzuschriften gegeben, in denen die Frage aufgeworfen wurde, ob man nicht wieder den Handgranatenweitwurf einführen sollte«. »Taz«-Redakteur Johannes Kopp erläuterte: »In der DDR übten diesen Neuntklässler im Pflichtfach Wehrkunde.« Krüger habe auf Nachfrage der »Taz« sein Bedauern geäußert: »Diese Dimension des Sportunterrichts sei gerade in Westdeutschland aus dem Blick geraten.«
Auch wenn es derweil noch diskret behandelt wird: Da wächst zusammen, was zusammen gehört! Boris Pistorius mit seiner angemahnten »Kriegstüchtigkeit«, Walter Ulbricht selig mit seinem Pflichtfach »Wehrkunde« und natürlich Friedrich Ludwig Jahn mit seinem anfangs geheimen Deutschen Bund. Jahn wollte mittels Turnübungen auf der Berliner Hasenheide 1810 die ihm so verhassten französischen Besatzer vertreiben. Dass Juden, selbst getaufte, dem Deutschen Bund nicht beitreten durften, versteht sich von selbst, man muss auch gegenüber dem inneren Feind wachsam sein! Damit man dem äußeren Feind, ob Russ’ oder Franzmann, frisch, fromm, fröhlich, frei am Barren und am Reck entgegentreten kann!
Die letzten Mohikaner
Jan Miotti über die antikoloniale Rhetorik der Schweizerischen Volkspartei
Das Schweizer Volk hat am 6. Dezember 1992 gesagt: Nein! Wir gehen nicht in die EU. Ja! Wir bleiben ein unabhängiges Land mit einer direkten Demokratie, wo der Bürger das Sagen hat«, posaunte Christoph Blocher, der seit vierzig Jahren das Sagen hat in der Schweizerischen Volkspartei (SVP), auf ihrer Versammlung Ende Januar. »Seit vierzig Jahren führen wir den Kampf und bis heute, was die EU betrifft, mit Erfolg. … Als einzige Partei in der Schweiz, als die letzten Mohikaner. Und das Volk hat uns letztlich recht gegeben. Aber die treibenden Kräfte in Bern, die classe politique, sind hinein in die Uno, hinein in die EU, hinein in die Nato. … Sie haben hinter dem Rücken der Bevölkerung einen Vertrag geschmiedet. … Und wir armen Mohikaner haben gesagt: Wir stehen zur Schweiz! Und die Schweiz wird nicht zugrunde gehen, sondern sogar besser blühen.«
Hinter dem Rücken des Volkes, da ist bekanntlich ein Dolch, bereit zum Stoß, und Blocher tritt den Beweis an, dass ihm für die faschistische Mobilisierung die Drohkulisse nationaler Kränkung und Krise ausreicht. Im »heimlichen Imperium« (Lorenz Stucki) Schweiz macht man keinen Unterschied zwischen »blühen« und »besser blühen«.
Jedenfalls ist wie dem großdeutschen auch dem kleinstaatlichen Faschismus der Dolch ein Vertrag, geschmiedet von den Kommunistenjuden, pardon, der »classe politique«, die glaubt, »im Land etwas zu sagen zu haben und die durch die Volksabstimmung in der Macht beschränkt wird«. Der Vertrag zwischen der Schweiz und der EU sei ein »Kolonialvertrag«, und »weil sie ihn nicht durchbringen im Volk, müssen sie schöne Namen machen: bilaterale Verträge. ... Das wird uns begleiten in den nächsten Jahren: diese Lügenbegriffe, diese Gaunerbegriffe.«
Dass indigene Sennenvölker die Indianer Europas sind, gehört seit der Romantik zum reaktionären Alpenmythos. Der antikolonial-antisemitische Dreh Blochers ist nicht neu, schmiedet aber von neuem das Hufeisen zu den dummen Kerls der Linken, die meinen, ein indigenes Volk gegen einen 1948 durch einen internationalen Vertrag abgesicherten Staat verteidigen zu müssen. Blocher gibt die Direktive: »Die große Aufgabe der SVP ist es nicht, zu kämpfen, sondern diesen Vertrag zu erledigen.«
Abbau Ost
Domenico Müllensiefen erteilt in seinem neuen Roman sechs Lektionen über die ostdeutsche Provinz – ohne zu belehren, aber mit viel Witz und einem scharfen Ohr für Volkes Maul. Von Roland Zschächner
Nicht viel los und trotzdem passiert etwas. Neulich zum Beispiel hat die westdeutsche Professorenpartei AfD wieder abgeräumt im Osten. Überraschend war das nicht, jedenfalls nicht für die Leute in Jeetzenbeck. Wo ist das denn? In der Altmark! Den Ort gibt es aber gar nicht. Domenico Müllensiefen hat ihn sich für seinen Roman Schnall dich an, es geht los ausgedacht. Trotzdem gibt es die Leute aus Jeetzenbeck, weil es ihre Geschichten, Sorgen und Hoffnungen gibt. Drei Familien stehen dafür: Baumann, Schulz und die Körtges, zu denen Marcel gehört, der die Geschichte erzählt.
Alles hat einen Anfang und ein Ende. Irgendwann war die DDR am Ende. Seitdem ist Jeetzenbeck mittendrin in Deutschland. Doch so richtig dabei ist niemand, der von dort ist. Wieder abgehängt, jetzt aber anders: ökonomisch, kulturell und bald auch von der Bahn. Die Ferkeltaxe wird eingestellt. »Mann, was freute ich mich auf den slowakischen Mindestlohnbusfahrer, der uns bald durch die Gegend fahren würde. Der würde wenigstens nicht so tun, als wenn er was Besseres wäre«, kommentiert Marcel.
Schon ist es politisch, ohne Politik zu sein. Erste Lektion: Wo die Infrastruktur bröckelt, die Post und der Bäcker nicht mehr sind, machen nicht wenige ihr Kreuz bei der AfD. Viele lassen es aber ganz – das mit dem Wählen. Ums Arbeiten kommt man dagegen nicht herum. Marcel ist ein Malocher, geht auf die 40 zu, hat kaum Geld und muss deswegen ranklotzen. Er trägt Werbezeitungen aus und ist Verkäufer im örtlichen »Drehspießladen«. Was nach einer lokalen Slow-Food-Spezialität klingt, ist bloß ein anderer Name für Döner.
Den Drehspieß nach Jeetzenbeck gebracht hat Emilio, der aus Kuba stammt und der Vater von Steffi ist, in die Marcel mal unheimlich verliebt war und, wenn er darüber nachdenkt, immer noch ist, die aber mir nichts, dir nichts vor zwanzig Jahren abgehauen ist, was eine große Wunde gerissen hat, die aber nicht so groß ist wie die nach dem Tod von Vanessa, der Schwester Marcels, die ebenfalls vor zwanzig Jahren mit voller Wucht und Absicht gegen die Friedhofsmauer raste. Unfassbar.
Zweite Lektion: Rassismus und Perspektivlosigkeit – ein toxisches Paar. Steffi haut ab. Doch eines Tages kommt sie zurück. Mit dabei ist ihr Sohn Yanko, Spieler beim 1. FC Magdeburg. Wer schon mal übers flache Land in Ostdeutschland gefahren ist, sich die Trafohäuschen, Laternen und Brücken angeschaut hat, weiß, was so ein Verein bedeutet. Er ist ein Identitätsanker, wenn sonst alles den Bach runtergeht – dritte Lektion.
So steht die Entwicklung des FCM symbolisch für die der Region: »Da ging es dann wieder bergauf. Zumindest wirkte es so. Raus aus den Neunzigern, rein in das neue Jahrtausend, rein in einen Aufschwung, rein in unsere Jugend, und dabei die Welt entdecken. Aber irgendwie wurde unsere Welt immer kleiner, und das, was uns als Aufschwung verkauft wurde, war schon nicht mehr Stillstand, es war eher Abbau. Abbau Ost.«
Doch gerade läuft es: »Pascal kam momentan auch halbwegs klar, der FCM hatte die Liga gehalten, Steffi war wieder da, und dieser Typ war nicht ihr Ficker, sondern ihr Sohn. Ihr Sohn!« Pascal war übrigens mal mit Vanessa zusammen, kam nach deren Suizid nie wieder auf die Beine, will heißen, hat keinen Job, dafür aber immer Durst auf Bier. Das passt seinem Vater Dirk so gar nicht, denn der Sohn entspricht nicht dem Bild des fleißigen Deutschen. Doch Deutschland und alles, was damit zusammenhängt, sind Dirk wichtig; nicht umsonst wird er »Nazi-Schulz« genannt.
Er weiß Bescheid in Geschichte und auch bei anderen Themen. Man kennt solche Leute: sehr belesen und dann zielsicher immer an der falschen Stelle rechts abgebogen. Früher waren das mitunter die Haudrauf-Typen, heute können sie den Krawatten-Talk der Neuen Rechten: »Es gibt keinen Grund mehr, dass man mich Nazi-Schulz nennt. Man sollte mich Historiker-Schulz nennen.« Bildung schützt vor Faschismus nicht: Das ist die vierte Lektion für alle Nazis-sind-doof-Demonstranten.
Müllensiefen zeichnet in einem flotten Tempo das Leben auf dem flachen Land nach. Das ist Literatur aus und in der Gegenwart. Sein Icherzähler bedient sich dafür einer dem Alltag abgehörten Sprache, ist direkt bei den Beobachtungen und erzählt doch mit Humor. All das gipfelt in den Dialogen, die gewitzt, schnell und auf dem Punkt sind. Der 1987 geborene Autor, der in der Altmark aufwuchs, hat am Leipziger Literaturinstitut studiert und auf Baustellen geschuftet; 2022 kam sein Debüt Aus unseren Feuern heraus.
Menschen, die keine Kohle und im Alltag zu kämpfen haben, prägen das Werk von Müllensiefen. Manche pappen das Label »Osten« drauf, um seine Bücher ins Regal »Alles Nazis im Osten« stellen zu können. Marcel hat den passenden Kommentar dazu: »Wenn mein Leben hier wirklich so wäre, wie es im Fernsehen immer zu sehen ist, würde ich hier nicht leben wollen.« Fünfte Lektion: Das westdeutsche Bild des Ostens ist ein Stereotyp, das nicht dabei hilft, ihn zu verstehen.
Mit dem Verstehen ist es ohnehin so eine Sache, vor allem, wenn es um Nazis geht. Wer noch nie mit einem wie Dirk gesprochen hat, sollte mal in eine Kneipe gehen und die Ohren offen halten. Dann hört er die Geschichten über die Provokationen in der DDR, die Enttäuschungen in der BRD, das Tricksen und Täuschen und ganz viel über Deutschland. Das aufzuschreiben, ohne sich moralisch anzuwanzen, schafft Müllensiefen und gibt noch eine sechste Lektion mit auf den Weg: Verstehen zu wollen, heißt nicht, sich gemein zu machen. Es soll ja auch einen Osten abseits der Klischees geben.
Domenico Müllensiefen: Schnall dich an, es geht los. Kanon, Berlin 2024, 352 Seiten, 25 Euro
Roland Zschächner ist freier Journalist und schreibt unter anderem über Ostdeutschland und die Nachfolgestaaten Jugoslawiens