Humboldts vergessenes Erbe
Die Menschheit wird ärmer, weil ihre Sprachen verarmen – zu diesem deprimierenden Schluss kommt der Kognitionswissenschaftler Caleb Everett. Von Jürgen Roth
Farbbegriffe«, schreibt der US-amerikanische Kognitionswissenschaftler Caleb Everett in seinem Buch 1000 Sprachen – 1000 Welten, seien »die am gründlichsten untersuchten Sinneswörter in den Sprachen der Welt«. In manchen Sprachen gebe es fünfzehn (zum Beispiel im Koreanischen), in anderen lediglich zwei Grundfarbwörter (»grün« und »rot« in südamerikanisch-indigenen Idiomen). Doch warum dem so ist – man weiß es trotz aller Forschungsanstrengungen nicht. Genügt es der einen Sprachgemeinschaft, die Objekte der physischen Welt in ihrer flamboyanten, schillernden Beschaffenheit mit einem kargen Kategorienapparat zu erfassen, so spürt die nächste den unendlichen Abstufungen der optischen Töne mit einer ausladenden Palette bedeutungstragender Laute nach.
Erstaunlich, dass die in der Geschichte der abendländischen Philosophie gut gereiften Korrespondenztheorien bei näherem Betrachten ihrer Grundlagen verlustig gehen: Just die Völker des Amazonas, deren Sprachen Everett über viele Jahre hinweg katalogisiert hat, benötigen angesichts einer überbordend üppigen Natur nur einen rudimentären Farbwortschatz, derweil dem Englischen diesbezüglich ein ziemlich aufgemotzter Thesaurus zur Verfügung steht. Deshalb scheint der These, es spielten »kulturelle Faktoren« (gewissermaßen als Konstruktionsprinzipien) und nicht außenweltliche die Hauptrolle bei der Ausbildung von Sprachsystemen, die sich unter anderem an der Bewältigung lebenspraktischer Aufgaben zu bewähren haben, eine gewisse Plausibilität zuzukommen.
Die Bildung von Substantivklassen, die Raumvorstellungen sortieren, folgt einem ähnlich erratischen Muster, das eben deshalb keines ist. Everett widerspricht über Hunderte von redundant gefüllten Seiten dem Modell einer universalistischen Sprachtheorie, ohne bis zum Schlusskapitel Noam Chomsky zu erwähnen. Dessen Konzept einer Tiefenstruktur, die, in ihrer Wirkungsweise über apart gezeichnete Bäume mit Nominal- und Verbalphrasen darstellbar, sämtlichen Einzelsprachen zugrunde liege, mag eine abstrakte Syntaxtheorie begründen; die Ebene des Gebrauchs, der Bedeutung, die in ihrer Vagheit und Regellosigkeit in Metaphern und Redewendungen besonders deutlich wird, erreicht es nicht (und, nebenbei, nicht einmal jene der Satzbildung und Wortstellung). Da war nicht erst Wittgenstein weiter, sondern bereits Wilhelm von Humboldt, der zusammen mit Herder und als sachte abtrünniger Kantianer für den ersten linguistic turn in der Geschichte des Denkens verantwortlich zeichnete.
Everett konstatiert, »dass die Sprache einen Einfluss auf das hat, was wir früher als tiefverwurzelte, universelle Facetten der menschlichen Raumwahrnehmung betrachteten«. Bei allem empirischen, feldlinguistisch und datenbankgestützt untermauerten Fleiß – das hätte er einfacher haben können. Humboldt erhob entschieden Einspruch gegen den dieser Tage unter dem Banner der »Weltgesellschaft« segelnden »Vulgärrealismus« und eine mechanistische Sprachvorstellung, die »allen Geist und alles Leben verbannt«. Man nehme den Polen ihr »Flussbein« weg und den Deutschsprachigen ihren »Flussarm«, die Welt wäre nochmals karger.
Wir bahnen uns einen Zugang zur Wirklichkeit durch die je eigene, bildlich prägende, in Analogien aufgefächerte Sprache, »welche der Geist zwischen sich und die Gegenstände durch die innere Kraft seiner Arbeit setzen muss«. Humboldt sprach von »Weltansicht« (nicht von Weltanschauung!). Sprache sei kein »Inbegriff gesellschaftlich erfundener, in sich gleichgültiger Zeichen, deren lästige Verschiedenheit man nun einmal nicht loswerden kann«, sondern tätiger Ausdruck und Medium der Verschiedenheit, die sich bis in jedes Individuum hinein fortpflanze. So viele Sprachen gebe es, wie es Menschen gibt.
»Kommunikation ist Schwindel«, meinte Adorno, sich gegen die rationalistische Reduktion des Äußerungs- und Darstellungsvermögens wendend. Everett ratifiziert das pausenlos. Sprache ist kein bloßes Austauschmittel, sondern eine anthropologische Konstante, die jene Grenzen setzt, ohne die kein Lebewesen zu existieren vermag. »Nur durch die Untersuchung verschiedener kognitiver Bereiche unter völlig unterschiedlichen sprachlichen, kulturellen und ökologischen Umständen kann das Studium des Geistes das wahre Ausmaß der begrifflichen Vielfalt unter den Menschen erfassen«, heißt es bei Everett, und sein Resümee ist deprimierend: »Wir stehen am Schnittpunkt zweier Entwicklungen: der zunehmenden Anerkennung der kognitiven und sprachlichen Vielfalt in den menschlichen Populationen und des unaufhaltsamen Rückgangs der sprachlichen Vielfalt, die diese Anerkennung überhaupt erst ermöglichte.«
Es gibt doch in Berlin diese Universität. Vielleicht sollte man an der mal wieder die Abhandlung Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts lesen – sofern es dort noch um geistige Entwicklung und nicht bloß um »inklusives« Gefasel geht.
Caleb Everett: 1000 Sprachen – 1000 Welten. Wie sprachliche Vielfalt unser Menschsein prägt. Aus dem Amerikanischen von Nikolaus de Palézieux. Westend, Neu-Isenburg 2025, 320 Seiten, 26 Euro
Jürgen Roth schrieb in konkret 5/25 über die Staatsmedien im Vorkrieg
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