Abbau Ost
Domenico Müllensiefen erteilt in seinem neuen Roman sechs Lektionen über die ostdeutsche Provinz – ohne zu belehren, aber mit viel Witz und einem scharfen Ohr für Volkes Maul. Von Roland Zschächner
Nicht viel los und trotzdem passiert etwas. Neulich zum Beispiel hat die westdeutsche Professorenpartei AfD wieder abgeräumt im Osten. Überraschend war das nicht, jedenfalls nicht für die Leute in Jeetzenbeck. Wo ist das denn? In der Altmark! Den Ort gibt es aber gar nicht. Domenico Müllensiefen hat ihn sich für seinen Roman Schnall dich an, es geht los ausgedacht. Trotzdem gibt es die Leute aus Jeetzenbeck, weil es ihre Geschichten, Sorgen und Hoffnungen gibt. Drei Familien stehen dafür: Baumann, Schulz und die Körtges, zu denen Marcel gehört, der die Geschichte erzählt.
Alles hat einen Anfang und ein Ende. Irgendwann war die DDR am Ende. Seitdem ist Jeetzenbeck mittendrin in Deutschland. Doch so richtig dabei ist niemand, der von dort ist. Wieder abgehängt, jetzt aber anders: ökonomisch, kulturell und bald auch von der Bahn. Die Ferkeltaxe wird eingestellt. »Mann, was freute ich mich auf den slowakischen Mindestlohnbusfahrer, der uns bald durch die Gegend fahren würde. Der würde wenigstens nicht so tun, als wenn er was Besseres wäre«, kommentiert Marcel.
Schon ist es politisch, ohne Politik zu sein. Erste Lektion: Wo die Infrastruktur bröckelt, die Post und der Bäcker nicht mehr sind, machen nicht wenige ihr Kreuz bei der AfD. Viele lassen es aber ganz – das mit dem Wählen. Ums Arbeiten kommt man dagegen nicht herum. Marcel ist ein Malocher, geht auf die 40 zu, hat kaum Geld und muss deswegen ranklotzen. Er trägt Werbezeitungen aus und ist Verkäufer im örtlichen »Drehspießladen«. Was nach einer lokalen Slow-Food-Spezialität klingt, ist bloß ein anderer Name für Döner.
Den Drehspieß nach Jeetzenbeck gebracht hat Emilio, der aus Kuba stammt und der Vater von Steffi ist, in die Marcel mal unheimlich verliebt war und, wenn er darüber nachdenkt, immer noch ist, die aber mir nichts, dir nichts vor zwanzig Jahren abgehauen ist, was eine große Wunde gerissen hat, die aber nicht so groß ist wie die nach dem Tod von Vanessa, der Schwester Marcels, die ebenfalls vor zwanzig Jahren mit voller Wucht und Absicht gegen die Friedhofsmauer raste. Unfassbar.
Zweite Lektion: Rassismus und Perspektivlosigkeit – ein toxisches Paar. Steffi haut ab. Doch eines Tages kommt sie zurück. Mit dabei ist ihr Sohn Yanko, Spieler beim 1. FC Magdeburg. Wer schon mal übers flache Land in Ostdeutschland gefahren ist, sich die Trafohäuschen, Laternen und Brücken angeschaut hat, weiß, was so ein Verein bedeutet. Er ist ein Identitätsanker, wenn sonst alles den Bach runtergeht – dritte Lektion.
So steht die Entwicklung des FCM symbolisch für die der Region: »Da ging es dann wieder bergauf. Zumindest wirkte es so. Raus aus den Neunzigern, rein in das neue Jahrtausend, rein in einen Aufschwung, rein in unsere Jugend, und dabei die Welt entdecken. Aber irgendwie wurde unsere Welt immer kleiner, und das, was uns als Aufschwung verkauft wurde, war schon nicht mehr Stillstand, es war eher Abbau. Abbau Ost.«
Doch gerade läuft es: »Pascal kam momentan auch halbwegs klar, der FCM hatte die Liga gehalten, Steffi war wieder da, und dieser Typ war nicht ihr Ficker, sondern ihr Sohn. Ihr Sohn!« Pascal war übrigens mal mit Vanessa zusammen, kam nach deren Suizid nie wieder auf die Beine, will heißen, hat keinen Job, dafür aber immer Durst auf Bier. Das passt seinem Vater Dirk so gar nicht, denn der Sohn entspricht nicht dem Bild des fleißigen Deutschen. Doch Deutschland und alles, was damit zusammenhängt, sind Dirk wichtig; nicht umsonst wird er »Nazi-Schulz« genannt.
Er weiß Bescheid in Geschichte und auch bei anderen Themen. Man kennt solche Leute: sehr belesen und dann zielsicher immer an der falschen Stelle rechts abgebogen. Früher waren das mitunter die Haudrauf-Typen, heute können sie den Krawatten-Talk der Neuen Rechten: »Es gibt keinen Grund mehr, dass man mich Nazi-Schulz nennt. Man sollte mich Historiker-Schulz nennen.« Bildung schützt vor Faschismus nicht: Das ist die vierte Lektion für alle Nazis-sind-doof-Demonstranten.
Müllensiefen zeichnet in einem flotten Tempo das Leben auf dem flachen Land nach. Das ist Literatur aus und in der Gegenwart. Sein Icherzähler bedient sich dafür einer dem Alltag abgehörten Sprache, ist direkt bei den Beobachtungen und erzählt doch mit Humor. All das gipfelt in den Dialogen, die gewitzt, schnell und auf dem Punkt sind. Der 1987 geborene Autor, der in der Altmark aufwuchs, hat am Leipziger Literaturinstitut studiert und auf Baustellen geschuftet; 2022 kam sein Debüt Aus unseren Feuern heraus.
Menschen, die keine Kohle und im Alltag zu kämpfen haben, prägen das Werk von Müllensiefen. Manche pappen das Label »Osten« drauf, um seine Bücher ins Regal »Alles Nazis im Osten« stellen zu können. Marcel hat den passenden Kommentar dazu: »Wenn mein Leben hier wirklich so wäre, wie es im Fernsehen immer zu sehen ist, würde ich hier nicht leben wollen.« Fünfte Lektion: Das westdeutsche Bild des Ostens ist ein Stereotyp, das nicht dabei hilft, ihn zu verstehen.
Mit dem Verstehen ist es ohnehin so eine Sache, vor allem, wenn es um Nazis geht. Wer noch nie mit einem wie Dirk gesprochen hat, sollte mal in eine Kneipe gehen und die Ohren offen halten. Dann hört er die Geschichten über die Provokationen in der DDR, die Enttäuschungen in der BRD, das Tricksen und Täuschen und ganz viel über Deutschland. Das aufzuschreiben, ohne sich moralisch anzuwanzen, schafft Müllensiefen und gibt noch eine sechste Lektion mit auf den Weg: Verstehen zu wollen, heißt nicht, sich gemein zu machen. Es soll ja auch einen Osten abseits der Klischees geben.
Domenico Müllensiefen: Schnall dich an, es geht los. Kanon, Berlin 2024, 352 Seiten, 25 Euro
Roland Zschächner ist freier Journalist und schreibt unter anderem über Ostdeutschland und die Nachfolgestaaten Jugoslawiens
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