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Nacht und Nebel

Birgit Weyhe zeigt in ihrem Comic Schweigen, wie eng die Geschichte der argentinischen Militärdiktatur mit dem Nationalsozialismus verbunden ist. Von Peter Kusenberg

Dann plötzlich fing er an zu sprechen, und wir wünschten uns sehnlichst sein Schweigen zurück«, heißt es in Primo Levis Roman Die Atempause, denn das Mitleid, das der Schweigensbrecher »in uns erregte, war mit Schrecken gemischt«. In Birgit Weyhes umfangreichem Comic-Werk Schweigen heißt es zu Beginn: »Wer im Nationalsozialismus verschwieg, dass seine Nachbarn untergetauchte Juden versteckten, hat genauso geschwiegen wie diejenigen, die wegschauten, wenn am hellichten Tag die Menschen zu den Deportationszügen gebracht wurden.« Die Ambivalenz des Schweigens durchzieht die historische Erzählung von den 30er Jahren bis in die Gegenwart. Als erste Hauptfigur tritt Ellen Marx auf, der 1939 als jüdischer Schülerin in Berlin die Ausreise nach Argentinien gelingt, wo sie als einziges Mitglied ihrer Familie die Shoa überlebt. Ellens Tochter Nora, die zweite Protagonistin, »verschwindet« knapp vierzig Jahre später in einem Foltergefängnis.

Als dritte Hauptfigur wählte Weyhe die deutsche Studentin Elisabeth Käsemann, die sich im SDS um Rudi Dutschke politisierte und 1970 nach Buenos Aires übersiedelte. Dort setzte sie ihre politische Arbeit fort, was ab 1976 zu einer lebensgefährlichen Angelegenheit geriet, nachdem sich die Militärjunta an die Macht geputscht hatte. Käsemann agitierte im linken Untergrund gegen das Regime, hoffend, dass ihr bundesdeutscher Pass sie vor dem Zugriff des Regimes schützen werde. Ihre britische Freundin Diana erzählte Jahre später, dass sich die beiden am Vortag der Verhaftung zum Frühstück verabredet hatten. Als Elisabeth nicht auftauchte, befürchtete Diana das Schlimmste und vernichtete heikle Dokumente. Am zweiten Tag wurde Diana »abgeholt«, gefoltert und in ein Lager entführt, wo sie die in einem Nebenraum vor Schmerz schreiende Elisabeth wegen ihres deutschen Akzents identifizieren konnte. Die Britin wurde vergewaltigt und entlassen, woraufhin sie das Auswärtige Amt benachrichtigte. Doch, wie es in konkret 10/86 heißt, lagen den »Damen und Herren im Hause Genscher Atom- und Rüstungsgeschäfte näher … als die Erhaltung linken Lebens«. Weyhe illustriert dies mit Schaubildern, die die extreme Steigerung der BRD-Exporte nach Argentinien zeigen, während im folgenden Panel der Kapitän der DFB-Auswahl während der Fußball-WM 1978 das eklige Sätzchen spricht, er, Berti Vogts, »habe keinen einzigen politischen Gefangenen gesehen«.

Dennoch erregte der Fall Käsemann im Heimatland einige mediale Aufmerksamkeit, so dass im Juni 1977 der Leichnam des Folteropfers freigegeben wurde. Nora Marx’ Leiche hingegen wurde nie gefunden. Weyhe beschreibt die Bemühungen der Eltern, insbesondere der Mutter, das Schicksal der Tochter zu ermitteln. In Buenos Aires demonstrierte Ellen mit anderen Müttern, den »Madres de Plaza de Mayo«, für Aufklärung der Verbrechen, wobei sie meist zwischen dem Platz und ihrer Arbeitsstelle bei der jüdischen Gemeinde pendelte. Weyhe verweist auf den hohen Anteil jüdischer Menschen an den Opfern der Junta. »Die Zahl der verschwundenen Deutschen war bis zum Ende der Diktatur auf Hunderte gewachsen. Ein Drittel von ihnen waren Nachkommen deutsch-jüdischer Emigranten«, was nicht verwundert, wenn man weiß, dass seit 1945 via »Rattenlinie« mindestens 10.000 Nazis nach Südamerika entkamen, rund die Hälfte davon nach Argentinien. Weyhe spekuliert, dass sich die Machthaber ein Beispiel an Hitlers »Nacht-und-Nebel-Erlass« von 1941 nahmen und die Opfer »lautlos« und »systematisch« zum »Verschwinden« brachten, um die Angehörigen zu verunsichern.

Die Autorin erzählt das Schicksal der drei Frauen chronologisch und beschreibt zuletzt das weitere Leben der Marxens. Noras Vater etwa verunsichert Jahre nach den Ereignissen eine Reisegesellschaft damit, dass er unaufgefordert davon erzählt, wie sein Sohn bei einem Autounfall in Israel starb, und dass seine jüngste Tochter verschleppt, gefoltert und vermutlich ermordet wurde, und er fragt, wie er dieses Wissen ertragen soll. Seine ebenfalls anwesende Gattin ist entsetzt, doch sie schweigt, weil sie, wie ihre zweite Tochter spekuliert, nur »weiterleben kann, wenn sie ihren Schmerz verdrängt«. Weyhe zeichnet die historischen Ereignisse in einfachen, dezent kolorierten Bildern. Quälerei, Ungewissheit, Schmerz und Vergewaltigung erscheinen als krakelige Schraffur oder als Schwarzfläche, Folterknechte als Scherenschnitt, während der Admiral und Massenmörder Emilio Massera mit blutroten Flecken in Szene gesetzt ist.

Die im Anhang dokumentierte Recherche hat zu einem ebenso aufklärerischen wie anschaulichen Historiendokument geführt, das die Nazi-Herrschaft, Argentiniens Militärdiktatur und deren Verharmlosung durch die Regierung Milei miteinander verbindet. Anders als die Autoren Pascal Bresson und Sylvain Dorange, die in ihrem Comic Beate und Serge Klarsfeld: Die Nazijäger (Carlsen 2021) komische Szenen integrierten, bleibt Weyhe weitgehend nüchtern in ihrer Schilderung. Dabei hätte sie die Lebensumstände der beiden Frauen Nora und Elisabeth gern ein wenig ausführlicher schildern können, damit das Werk nicht in Gefahr gerät, zum Lehrbuch für deutsche Oberstufen zu verkommen.

Doch der Fokus aufs große Ganze mindert nicht das Gelingen der Inszenierung des Grauens, das bei Weyhe entsetzlicher wirkt als der aktuelle argentinische Horrorfilm »1978« über den Terror der »freundlichen Gastgeber der Fußball-Weltmeisterschaft« (Hermann L. Gremliza).

Birgit Weyhe: Schweigen. Avant-Verlag, Berlin 2025, 386 Seiten, 39 Euro

Peter Kusenberg schrieb in konkret 6/25 über den Comic Zwei weibliche Halbakte

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